1 Einleitung
Unternehmen fokussieren sich heutzutage verstĂ€rkt auf ihre Kernkompetenzen und lagern AktivitĂ€ten, die nicht zu diesen gehören, aus (Ageron et al., 2012). Outsourcingraten von bis zu 80 Prozent fĂŒhren dazu, dass immer mehr Verantwortung an externe Lieferkettenteilnehmer ĂŒbertragen wird (Wellbrock und Ludin, 2019). Mit dem erhöhten Outsourcing ist die Anzahl der Unternehmen, die in einer typischen Lieferkette involviert ist, deutlich gestiegen (MĂŒller und Seuring, 2007). DarĂŒber hinaus haben sich die Lieferbeziehungen zwischen Unternehmen durch die Globalisierung weltweit vernetzt (Bundesministerium fĂŒr Umwelt, Naturschutz, Wirtschaft, Bau und Reaktorsicherheit und Umweltbundesamt, 2017). Durch die globale Arbeitsteilung hat bereits das konventionelle Lieferkettenmanagement eine beachtliche Bedeutungssteigerung erfahren (Gold und Seuring, 2012). Hinzu kommt, dass Unternehmen in Bezug auf die Sicherstellung hoher sozial-ökologischer Standards in der Lieferkette mit schĂ€rferen rechtlichen Anforderungen sowie mit steigenden Erwartungen seitens Verbrauchern, B2B-Kunden, Investoren und der Zivilgesellschaft im Allgemeinen konfrontiert werden.12 All diese VerĂ€nderungen fĂŒhren dazu, dass die Bedeutung eines nachhaltigen Lieferkettenmanagements (Sustainable Supply Chain Management, kurz SSCM) steigt. Bouchery et al. (2017) argumentieren, dass es fĂŒr ein Unternehmen zunehmend unerlĂ€sslich wird, die ökonomischen, ökologischen und sozialen Dimensionen seiner Lieferkette nicht nur zu kennen, sondern proaktiv zu ĂŒberprĂŒfen und zu managen.
Ziel dieses Buches ist es aufzuzeigen, wie ein nachhaltiges Lieferkettenmanagement im Unternehmen etabliert werden kann. Hierin sehen wir die Chance, dass Unternehmen nicht nur selbst in vielfĂ€ltiger Weise profitieren, sondern zudem einen darĂŒberhinausgehenden gesellschaftlichen Beitrag leisten. Lieferketten reprĂ€sentieren, wie United Nations Global Compact (2015, S. 3) feststellt, âeinen der wichtigsten Hebel fĂŒr Unternehmen, um einen positiven Beitrag in der Welt zu leistenâ.3
1.1 Vorgehensweise des Buches
Die Publikation richtet sich an Unternehmen aller Branchen und GröĂen, die ein nachhaltiges Lieferkettenmanagement etablieren möchten. Angefangen bei der Entwicklung einer Strategie bis hin zur konkreten Umsetzung wird dargelegt, welche Aspekte hierbei von zentraler Bedeutung sind. Die Informationsaufbereitungen und Handlungsanleitungen beruhen auf der Annahme, dass das nachhaltige Lieferkettenmanagement neu im Unternehmen eingefĂŒhrt wird. Unsere Darlegungen bieten allerdings nicht nur Orientierung fĂŒr Unternehmen, die ganz am Anfang des Aufbauprozesses stehen, sondern ebenfalls fĂŒr Unternehmen, die bereits ein nachhaltiges Lieferkettenmanagement etabliert haben.
Das Buch ist zwar nicht als Lehrbuch konzipiert, bietet jedoch zusÀtzlich zur primÀren Zielgruppe der Unternehmen auch Studenten von UniversitÀten und Fachhochschulen eine wichtige Informationsgrundlage.
Das Buch fasst Erkenntnisse aus wissenschaftlichen und praxisorientierten Publikationen sowie Interviews mit Experten aus der Wirtschaft, Wissenschaft und NGOs zusammen. Im Fokus dieses Buches steht die Relevanz fĂŒr die Praxis. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden daher nicht tiefgrĂŒndig diskutiert, sondern dienen allenfalls als Basis beziehungsweise ErgĂ€nzung fĂŒr praxisorientierte Informationen. Um aufzuzeigen, welche AnsĂ€tze von Unternehmen umgesetzt werden, enthĂ€lt diese Publikation zahlreiche Praxisbeispiele von Vorreitern auf dem Gebiet des nachhaltigen Lieferkettenmanagements. Die Praxisbeispiele beruhen auf internen und/oder veröffentlichten Vorgaben und Verfahrensbeschreibungen sowie auf Angaben von Nachhaltigkeitsexperten der jeweiligen Organisationen, die im Zuge der Bucherstellung im Rahmen von Interviews und/oder (persönlichen) Absprachen gemacht wurden.
Um zugleich der KomplexitĂ€t des Themas wie auch den zeitlich knappen Ressourcen eines Praktikers gerecht zu werden, besteht jedes Kapitel aus ausfĂŒhrlichen Beschreibungen sowie einer kurzen, stichpunktartigen Zusammenfassung der wichtigsten Aspekte (siehe hierzu Zusammenfassungsverzeichnis). Mit Hilfe der Zusammenfassungen können sich Praktiker in kurzer Zeit einen Ăberblick ĂŒber das Thema verschaffen.
Ein nachhaltiges Lieferkettenmanagement umfasst grundsĂ€tzlich sowohl die vor- als auch die nachgelagerte Lieferkette. Der thematische Fokus dieses Buches wird auf die vorgelagerte Lieferkette eingegrenzt. Im Mittelpunkt stehen folglich nicht HĂ€ndler, Konsumenten oder die Verwertung, sondern die Zulieferer von Unternehmen. Dabei werden nicht nur Zulieferer adressiert mit denen ein VertragsverhĂ€ltnis besteht (Tier-1-Lieferanten), sondern alle Unterlieferanten bis zum Beginn der Lieferkette. Das Buch befasst sich hierbei nicht mit der Frage welche Produkte und/oder Dienstleistungen beschafft werden, sondern wie Produkte und/oder Dienstleistungen beschafft werden.4 Die Fokussierung dient lediglich der thematischen Eingrenzung und stellt keine Wertung dar in Bezug auf die Bedeutung darĂŒberhinausgehender Handlungsfelder.
Im Rahmen des Buches basiert der Begriff ânachhaltige Beschaffungâ auf dem VerstĂ€ndnis der United Nations (2012) und wird wie folgt definiert:
Traditionelle Beschaffung fokussiert sich auf Preis-Leistungs-VerhĂ€ltnis-Ăberlegungen. Das Ziel und die Herausforderung von nachhaltiger Beschaffung ist die Integration von ökologischen und sozialen Ăberlegungen in den Beschaffungsprozess, mit dem Ziel negative Auswirkungen auf die Gesundheit, soziale Konditionen und die Umwelt zu reduzieren, dadurch wertvolle Kosten fĂŒr öffentliche Organisationen und die Gesellschaft im Allgemeinen zu sparen.5
Bei der Etablierung einer nachhaltigen Beschaffung sind aus unserer Sicht insbesondere zehn Aspekte von zentraler Bedeutung. Zuallererst ist es wichtig den Fokus darauf zu legen, nachteilige Auswirkungen auf Mensch und Umwelt zu identifizieren, zu priorisieren und mit geeigneten MaĂnahmen zu verhĂŒten und zu mindern. Um entscheiden zu können, welche MaĂnahmen mit welcher PrioritĂ€t umgesetzt werden sollen, ist die Entwicklung einer SSCM-Strategie und die Ableitung entsprechender strategischer Ziele wichtig. Bei der Entwicklung der Strategie sollten die Erwartungen und Interessen der wichtigsten internen und externen Stakeholder berĂŒcksichtigt werden. Die Etablierung einer nachhaltigen Beschaffung bedarf erheblicher Anpassungen im Unternehmen, so dass die UnterstĂŒtzung der Unternehmensleitung zwingend erforderlich ist. Die UnterstĂŒtzung der Unternehmensleitung sollte sich auch widerspiegeln in der Bereitstellung adĂ€quater finanzieller sowie personeller Ressourcen. Wichtig ist ferner, dass Nachhaltigkeit nicht als ein zusĂ€tzlicher Faktor neben dem originĂ€ren Beschaffungsprozess eingefĂŒhrt wird, sondern einen festen Bestandteil des Beschaffungsprozesses darstellt. Wichtig ist darĂŒber hinaus eine Ausrichtung auf die Erzielung langfristiger positiver Auswirkungen. Das bedeutet auch, den Fokus nicht darauf zu legen, Lieferanten zu sanktionieren, sondern sie zu befĂ€higen, die Nachhaltigkeitsvorgaben dauerhaft einzuhalten. HĂ€ufig bestehen die schwerwiegendsten sozial-ökologischen MissstĂ€nde nicht bei den direkten Zulieferern, sondern in einer weiter vorgelagerten Lieferkettenstufe. Gerade bei der Gewinnung von PrimĂ€rrohstoffen und damit am Anfang der Wertschöpfung existieren oftmals schwerwiegende sozial-ökologische Defizite. Die MaĂnahmen sollten daher möglichst in die gesamte Lieferkette hinein kaskadiert werden. Da die vorgelagerte Lieferkette in der Regel aus komplexen, globalen und intransparenten Lieferantennetzwerken besteht, nimmt die Bedeutung von kooperativen AnsĂ€tzen zu. Um Synergieeffekte zu erzielen und dadurch den Aufwand und die Kosten, sowohl auf Seiten der beschaffenden Unternehmen als auch auf Seiten der Lieferanten zu reduzieren, ist darĂŒber hinaus eine Standardisierung der Vorgaben und Verfahren bedeutend.6 Die Relevanz der zehn zentralen Aspekte wird in den einzelnen Kapiteln des Buches an unterschiedlichen Stellen verdeutlicht.
Thematisch aufgeteilt ist das Buch wie folgt: Kapitel 1 gibt zuerst einen Ăberblick ĂŒber vier Kernthemenbereiche der unternehmerischen Nachhaltigkeit und konkretisiert anschlieĂend das Thema Verantwortung fĂŒr die Lieferkette. Kapitel 2 beleuchtet, welche GrĂŒnde es fĂŒr Unternehmen gibt, ein nachhaltiges Lieferkettenmanagement zu etablieren. In Kapitel 3 wird aufgezeigt, wie man zu einer SSCM-Strategie kommt und daraus nachhaltigkeitsorientierte strategische Ziele fĂŒr die Lieferkette ableitet. Kapitel 4 befasst sich mit dem Thema Organisation eines nachhaltigen Lieferkettenmanagements. In Kapitel 5 wird erörtert, wie der Faktor Nachhaltigkeit im Beschaffungsprozess verankert werden kann. Kapitel 6 beschreibt die Absicherung der nâTier Lieferkette und Kapitel 7 setzt sich mit dem Thema Kooperationen auseinander. In Kapitel 8 wird die interne und die externe Kommunikation adressiert. Im letzten Teil des Buches, Kapitel 9, folgt eine thematische Schlussbetrachtung.
1.2 Nachhaltigkeitsthemen und Handlungsbereiche
Die Gestaltung einer nachhaltigen Lieferkette schlieĂt grundsĂ€tzlich viele unterschiedliche Themenbereiche ein. Um einen Ăberblick darĂŒber zu geben, welche Handlungsbereiche in den Kernthemen Umwelt, Menschenrechte, Arbeitspraktiken sowie Betriebs- und GeschĂ€ftspraktiken bestehen können, fasst Tabelle 1.1 einige zentrale Handlungsbereiche zusammen. Die in Tabelle 1.1 dargelegten Handlungsbereiche sollen lediglich als erste Orientierungshilfe dienen und erheben nicht den Anspruch auf VollstĂ€ndigkeit.
Tab. 1.1Nachhaltigkeitsthemen und Handlungsbereiche. Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an ISO 26000 (2011), Social Accountability International (2019), IAO (2019), United Nations Global Compact (2019) und Bundesministerium fĂŒr Umwelt, Naturschutz, Wirtschaft, Bau und Reaktorsicherheit und Umweltbundesamt (2017)
Wie in der ISO 26000 (2011) dargelegt, sind alle Kernthemen, nicht jedoch alle Handlungsbereiche fĂŒr jede Organisation von Relevanz. In AbhĂ€ngigkeit von der individuellen Situation kann somit die Relevanz der Handlungsbereiche von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich ausfallen. Die Identifizierung derjenigen Handlungsbereiche, die fĂŒr das eigene Unternehmen wesentlich sind und die Ableitung entsprechender HandlungsprioritĂ€ten reprĂ€sentiert einen wichtigen Schritt bei der Etablierung eines nachhaltigen Lieferkettenmanagements und wird im Rahmen der strategischen Analyse (siehe hierzu Kapitel 3) ausfĂŒhrlich beschrieben.
1.3 Verantwortung fĂŒr die Lieferkette
Der Begriff âVerantwortungâ verweist auf die Praxis des âFĂŒr-etwas-Rede-und-Antwort-Stehensâ. Im Kern bedeutet dies, sich fĂŒr X gegenĂŒber Y, unter der Berufung auf Z, zu rechtfertigen. Zentral ist somit der Begriff der Rechtfertigung. Diese Rechtfertigung erfolgt oft mittels einer ethischen Norm. In der Praxis ist der Begriff der Verantwortung laut Ott (1997, S. 254) oftmals ein reiner Zuschreibungsbegriff:
Unter vorausgesetzten Werten, Normen und Prinzipien dient der Begriff der Verantwortung dazu, natĂŒrliche oder juristische Personen [âŠ] fĂŒr zurechenbare Handlungen (oder Unterlassungen), die als NormverstöĂe interpretiert werden können, zur Rechenschaft zu ziehen.
Hier geht es dann nicht um eine ethische Reflexion, sondern darum, dass sich derjenige, dem die Verantwortung zugeschrieben wird â in der Lieferkette oft ein bestimmtes Unternehmen â rechtfertigen muss.
Aufgrund arbeitsteilig organisierter Systeme und der Tatsache, dass Unternehmen in komplexen Wechselbeziehungen operieren, gibt es bei...