Missbraucht im Namen des Herrn
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Missbraucht im Namen des Herrn

Die Geschichte einer gestohlenen Kindheit in einer Evangelischen Freikirche

Bernd Vogt

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  1. 280 pages
  2. German
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Missbraucht im Namen des Herrn

Die Geschichte einer gestohlenen Kindheit in einer Evangelischen Freikirche

Bernd Vogt

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Wie bringt man Eltern dazu, ihr 10-jĂ€hriges Kind allen Ernstes vor die Wahl zu stellen: »Wenn der Herr Jesus Mama und Papa geholt hat, wo willst du dann bleiben, bei Oma oder lieber bei Tante Helga«? oder völlig emotionslos zu sagen: »Wenn du erst in der Hölle bist, dann können wir dir auch nicht mehr helfen«! Willkommen in der Welt einer Evangelischen Freikirche. Bernd Vogt wurde in eine strengglĂ€ubige christliche Gemeinschaft, der auch heute noch sein Ă€lterer Bruder als Prediger angehört, hineingeboren. Als er mit 16 Jahren den Ausstieg schafft, liegt ein neues, faszinierendes Leben als »Weltmensch« vor ihm. Noch ahnt er nicht, dass ihn die zerstörerischen GlaubenssĂ€tze, die ihm seit frĂŒhesten Kindertagen eingetrichtert wurden, viele Jahre spĂ€ter in Form schwerer Erkrankungen, Ängsten und Depressionen einholen sollten. Mit seinem Buch gewĂ€hrt er Einblicke hinter die Kulissen scheinbar harmloser evangelikaler Freikirchen, die der breiten Öffentlichkeit sonst verwehrt bleiben. Er berichtet von einer Kindheit, die er als Außenseiter in Schule und Gesellschaft erlebte. Es sind mal tieftraurige Schilderungen, dann wieder urkomische Szenen, die er beschreibt; wie etwa sein verzweifelter Versuch, »im Freibad wie Jesus ĂŒbers Wasser zu laufen« oder »das Gebirge vor seiner HaustĂŒr zu versetzen«. So entfĂŒhrt er die LeserInnen in eine groteske Parallelwelt – in ein Irrenhaus, das er Familie nannte, in eine »Heil«Anstalt, die er Gemeinde nannte.Ein aufrĂŒttelndes, ĂŒberaus humorvolles Buch, das Nichtchristen wie GlĂ€ubige gleichermaßen zum Nachdenken anregt.

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Informations

Éditeur
Books on Demand
Année
2020
ISBN
9783750492103
Édition
1
Sous-sujet
Religion

Kapitel 1:
Das Irrenhaus, das wir Familie nannten
-
Die »Heil«Anstalt, die wir Gemeinde nannten

So war es mein verfluchtes Schicksal, dass ich in die Gemeinde meiner Eltern, einer kleinen Evangelischen Freikirche auf dem Dorf, hineingeboren wurde. In eine scheinbar harmlose christliche Gemeinschaft, der auch heute noch mein Ă€lterer Bruder Erich als Prediger und meine strengglĂ€ubigen Eltern bis zu ihrem Tod als bekennende Mitglieder angehör(t)en. Was danach kam, lĂ€sst sich am besten mit den Worten Aufzucht und Dressur umschreiben. So verbinde ich die frĂŒhesten Erinnerungen an meine Kindertage –ich mag vielleicht 4 Jahre alt gewesen sein- mit stinklangweiligen Versammlungen in unserer kleinen Dorfschule, zu denen mich meine Eltern trotz meines Quengelns und Murrens unerbittlich mitschleppten. Nur noch allzu lebhaft habe ich adrett gekleidete alte MĂ€nner und Frauen in voll besetzten Stuhlreihen vor Augen, die andachtsvoll einem Onkel dort vorne am Rednerpult lauschten. Und ĂŒber diesem Pult hing feierlich zelebriert ein kleines rotes Deckchen mit der Aufschrift: »Jesus ist der Sieger«. Gegen wen dieser Jesus gewonnen hatte und wie hoch, stand da leider nicht.
Und es musste wohl wichtig sein, was dieser Mann da ziemlich aufgeregt rausposaunte, denn auch Mama und Papa hingen mit ehrfurchtsvollen Mienen an seinen Lippen. Allein aufgrund ihres unterwĂŒrfigen Verhaltens wusste ich, dass ich stillzusitzen und den Mund zu halten hatte. Da ich aber nur Bahnhof verstand, von dem, was dieser Schreihals da wild gestikulierend zum Besten gab, versuchte ich die Zeit irgendwie totzuschlagen. Mal zĂ€hlte ich die Fliegen an der Wand, dann wieder spielte ich mit meinen kleinen Fingern. Jedenfalls langweilte ich mich zu Tode. Als der Mann endlich aufhörte zu schreien, fingen die Leute an; ein gruseliger Gesang. Und als dann alle mit ihrer Schreierei fertig waren, durfte ich wieder mit Mama und Papa nach Hause gehen.
Und manchmal, wenn ein besonders wichtiger Onkel –meine Eltern sprachen dann immer von einem »reich gesegneten Bruder«, was zum Teufel das auch immer bedeutete-, von weit her zum Schreien angereist war, baute Papa sein riesiges TonbandgerĂ€t auf, damit wir uns das schreckliche GebrĂŒll auch noch Zuhause anhören konnten. Das war wohl ganz im Sinne dieser SchreihĂ€lse.
Papa saß dann immer ganz aufgedreht vorne links in der ersten Stuhlreihe, wo er gleich drei StĂŒhle auf einmal fĂŒr sich in Beschlag genommen hatte. Einen fĂŒr sich, einen fĂŒr das TonbandgerĂ€t und einen fĂŒr das Mikrofon. Ich staunte dann immer nicht schlecht, dass er mit dem ganzen Kabelsalat ĂŒberhaupt klarkam. Denn eigentlich wusste er von Technik und Elektronik nur so viel, dass er seine Finger nicht in die Steckdose halten durfte, wie es mein Bruder wohl formuliert hĂ€tte. Nichtsdestotrotz, ich wurde das GefĂŒhl nicht los, dass der ganze Kokolores nur ein krampfhaftes Ablenkungsmanöver war. Letztlich wollte er sich wohl nur bei den Predigern einschleimen, damit sie ihm nicht auf die Schliche kamen, dass fĂŒr ihn »die ganze Sache mit Jesus scheiße war«, wie es noch eines Tages förmlich aus ihm rausplatzen sollte.
Jedenfalls galt es fĂŒr mich von da an, regelmĂ€ĂŸig eine mindestens zweistĂŒndige Folter aus Predigt, Gesang und Gebet auszuhalten. Mit zunehmendem Alter wurde mir dann schmerzhaft bewusst, dass Mama und Papa nichts mehr interessierte, als dass ich zu einem braven Jesusjungen heranwuchs. Und je sehnsĂŒchtiger ich mir liebende Eltern zusammenfantasierte, desto verzweifelter spĂŒrte ich, dass es ihnen nur darum ging, mich in die richtige Spur zu bringen. Also mich auf Gedeih und Verderb diesen fanatischen Menschen auszuliefern. FĂŒr den Rest, nicht mehr und nicht weniger als die Verformung zu einem lebendigen Glied ihrer Gemeinde, wĂŒrden diese verrĂŒckten Leute, die Prediger, sorgen – ihr TagesgeschĂ€ft sozusagen. Sie wĂŒrden mich schon unter ihre Fittiche, besser gesagt unter ihre Fuchtel nehmen und mir mein letztes zaghaftes Aufmucken austreiben. SchuldgefĂŒhle galt es zu wecken und zu schĂŒren, um sie dann mit StrafĂ€ngsten zu belegen.
Dabei war es so, dass mir der Herr Jesus in meinen ersten Lebensjahren noch als eine Art hilfsbereiter Polizist, als Freund und Helfer, verkauft wurde. So hatte ich in den Predigten aufgeschnappt, dass er uns Kinder durchaus mochte, denn immerhin hatte er mal gesagt: »Lasset die Kindlein zu mir kommen« (Lukas 18, 16). Allerdings war die Kehrseite der Medaille, dass ich ihn ganz doll liebhaben und immer brav und artig sein musste. Und wenn ich irgendetwas lieber machte, als in die Kinderstunde oder mit Mama und Papa an der Hand zur Versammlung zu gehen, fand er das gar nicht gut und konnte sogar richtig Àrgerlich werden.
Dazu muss man wissen, dass es mit dem Besuch dieser Veranstaltungen weiß Gott nicht getan war. Und ohne den folgenden Kapiteln vorgreifen zu wollen, so viel sei an dieser Stelle schon mal preisgegeben, fĂŒr einen »strengglĂ€ubigen Christen« gibt es nichts Wichtigeres, als seine Zeit dem Herrn Jesus und damit der Gemeinde zu opfern. Kinderstunden, spĂ€ter dann Jugendstunden, Gebetskreise, Freizeiten, Evangelisationen und, und, und. Ich sollte das ganze Programm bekommen, die volle Jesus-Dröhnung.
Und damit ich auch immer schön parierte, hatte der Herr Jesus seine Ohren gespitzt und belauerte mich in einer Tour. Das fand ich wiederum richtig fies. So bekam ich von klein auf das GefĂŒhl, dass ich mich mĂ€chtig ins Zeug legen musste, um ihm und damit auch meinen Eltern zu gefallen. Je Ă€lter ich dann wurde, desto mehr zog er die ZĂŒgel an. Der liebe Heiland, der bis dahin so eine Art »göttlicher Flipper, der Freund aller Kinder« war, und die Erwachsenen sogar ausgeschimpft hatte: »Es sei denn, dass ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen« (MatthĂ€us 18, 3), wurde plötzlich wunderlich, genau genommen, unbeherrscht und böse.
Und das hatte einfach damit zu tun, dass wir Kinder mit zunehmendem Alter unseren Welpenschutz verloren, und damit auch der Heiland seine Beißhemmung. Denn ab einem gewissen Alter, das konnte je nach Entwicklungsstand etwa zwischen sechs und neun Jahren sein, war es mit der »kindlich-christlichen Unschuld« vorbei. Von da an konnten wir nĂ€mlich zwischen »Gut« und »Böse« unterscheiden. Nun hieß es plötzlich: »Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf« (1. Mose 8, 21). Und unversehens steckte uns auch die sogenannte »ErbsĂŒnde« in den Knochen, die uns »vom ersten Schrei an zu SĂŒndern gemacht hatte« (Römer 5, 12). Im Klartext, von Geburt an hatten wir nun »Dreck am Stecken«.
Und dieser Irrsinn bedeutete fĂŒr mich ganz konkret, dass ich ohne jegliche Vorwarnung vom sĂŒĂŸen kleinen Steppke, den der Herr Jesus einigermaßen gut leiden konnte, zum verdammungswĂŒrdigen SĂŒnder mutierte, der den Teufel im Herzen hatte. Von einem Tag auf den anderen war ich sozusagen höllentauglich geworden. Ich verstand das ĂŒberhaupt nicht. Ich hatte mich doch gar nicht verĂ€ndert. Ich war doch noch genauso angepasst und pflegeleicht wie kurz zuvor. Doch es nutzte alles nichts. Die Zeiten, als der liebe Heiland noch fĂŒnfe gerade sein ließ, und es reichte, artig zu den Kinderstunden zu gehen, waren ein fĂŒr alle Mal vorbei. »Nur lieb sein und keine Dummheiten zu machen«, reichte als Ticket zu den Herzen meiner Eltern, der Glaubensgeschwister und vor allen Dingen zum Herzen des Heilands einfach nicht mehr aus.
Auch rein Ă€ußerlich hatte sich der Herr Jesus komplett neu erfunden. Der »gute Hirte«, den ich bis dahin nur im weißen Umhang, schwarzen wallenden Haaren und den echten, nach ihm benannten »Jesuslatschen« –mal mit Wanderstab, dann wieder ohne, dafĂŒr aber mit leicht erhobenen Armen-, aus der Kinderbibel und den Pixi-Heften kannte, hatte sich zum gnadenlos dreinschlagenden Gottessohn verwandelt. Und das mit einem Aussehen, dass mir schon Angst und Bange wurde, wenn ich nur an ihn dachte: »Seine Augen waren wie Feuerflammen, aus seinem Mund zischte ein scharfes, zweischneidiges Schwert, seine FĂŒĂŸe glĂŒhten wie Messing, und in seiner Hand hielt er ganz viele Sterne  « (Offenbarung 1, 14 – 16 u. Offenbarung 19, 12). Aber nicht nur das. Er wĂŒrde die UnglĂ€ubigen, –das waren irgendwie ganz böse Menschen-, »in seinen Feuerofen werfen« (MatthĂ€us 13, 41 – 50), den er irgendwo unter der Erde betrieb. Selbst kleine Kinder wie mich, wĂŒrde er »zu Tode schlagen« (Offenbarung 2, 23). Oha! Bei aller Liebe, mein Bild von ihm hatte sich merklich getrĂŒbt. Schon da ist wohl irgendetwas in mir kaputtgegangen.
Je nĂ€her ich dem Grundschulalter rĂŒckte, desto augenfĂ€lliger geriet ich ins Visier einiger Geschwister und des Jugendleiters Matthias, die nun mit aller Macht versuchten, mir das Singen im Jugendchor schmackhaft zu machen. Wie ich spĂ€ter noch in Erfahrung bringen sollte, kam dieser kleinen Truppe die wichtige Aufgabe zu, einleitend zu den Gottesdiensten Lobpreislieder zur Verherrlichung des Heilands zu trĂ€llern. So sollten die Gemeindemitglieder und sogenannte »Weltmenschen« –wenn sich denn mal welche in unseren Klassenraum verlaufen hatten- auf die anschließende Predigt eingestimmt bzw. weichgekocht werden. Wenn man so will, ein Chor als »musikalischer Eisbrecher im Dienste des Herrn«. Und schon bald sollte ich dahinterkommen, dass es sich bei diesen merkwĂŒrdigen Weltmenschen um Leute handelte, die nicht in die Versammlung kamen und deshalb bekehrt werden mussten. Also eigentlich um alle anderen. So einfach war das.
Und gerade dieser Matthias war es, der mich noch das FĂŒrchten lehren sollte. Ein aufgeblasener Wichtigtuer, dem selbst mein Vater mit einer Mischung aus Furcht und Feigheit in den Hintern kroch und katzbuckelnd mit »Doktor« ansprach. Letzteres nur deshalb, weil Matthias ein Medizinstudium aufgenommen hatte. VerstĂ€ndlich also, dass ich nur noch allzu lebendig seine aschfahle Visage und seine markant hohen Wangenknochen vor Augen habe, wĂ€hrend mir seine drohende, diabolische Stimme in den Ohren klingt. Auf jeden Fall ein gefĂ€hrlicher geistiger Brandstifter, dem man im normalen Leben besser nicht ĂŒber den Weg gelaufen wĂ€re. So viel an dieser Stelle zu Matthias. Er wird uns noch hĂ€ufiger begegnen – leider!
Jedenfalls hatten sie alle gemeinsam ausgeheckt, mich mit dem Lockvogelangebot »im Chor mitsingen zu dĂŒrfen«, ködern und so ihrer Gemeinde einverleiben zu können. Schließlich standen die Chancen fĂŒr einen ChorsĂ€nger recht gut, schon bald im Himmel als BackgroundsĂ€nger Karriere machen zu können. Besser hĂ€tte es also fĂŒr mich eigentlich gar nicht laufen können. Zumindest aus dem Blickwinkel meiner Eltern.
Die Sache hatte allerdings einen Haken. Ich war bockig und zickte rum. Das war umso erstaunlicher, weil ich dieses GefĂŒhl »andere nicht von mir enttĂ€uschen zu wollen«, sozusagen wie Muttermilch aufgesogen hatte. Und wĂ€hrend sie mir meine ausgeprĂ€gte »ZurĂŒckhaltung« zunĂ€chst noch als SchĂŒchternheit durchgehen ließen, zogen sie nach und nach die bekannten Stellschrauben aus Zuckerbrot und Peitsche an. Doch je mehr sie mir auf die Pelle rĂŒckten, desto heftiger spielte mein Innerstes verrĂŒckt. Es strĂ€ubte sich mit HĂ€nden und FĂŒĂŸen. Und ganz unabhĂ€ngig davon, dass ich der Kleinste war und einigen »Lobe-den-Herrn SĂ€ngern« gerade mal bis zur HĂŒfte reichte, fĂŒhlte es sich einfach falsch an.
Aber wie zum Teufel sollte ich ihnen das beibringen? Ich hatte mich gefĂ€lligst zu freuen, weil ich den lieben Heiland loben und preisen durfte. Ich kapierte zwar nicht »warum«?! Doch alle sagten, er hĂ€tte sich eigens fĂŒr mich vor fast 2000 Jahren freiwillig an ein Kreuz nageln und quĂ€len lassen. Und das nur deshalb, weil ich so schlecht und böse sei. »Ach ja?! Schönen Dank auch, »lieber« Jesus! Das wĂ€re aber wirklich nicht nötig gewesen«, sagte ich natĂŒrlich nicht. Was ich damit sagen will, es wollte einfach nicht in meinen kleinen SchĂ€del gehen, dass jemand fĂŒr mich sterben musste, dazu noch der Sohn Gottes. Denn so ĂŒbel fand ich mich gar nicht. Und bis dahin war ich auch noch ganz gut ohne diese »Erkenntnis« zurechtgekommen.
Nichtsdestotrotz, wenn ich es mir mit meinen Eltern nicht verderben wollte, wĂŒrde ich die Kröte schlucken mĂŒssen. Es gab einfach keinen Grund, nicht im Chor mitzusingen. Welche Entschuldigung hĂ€tte ich auch vorbringen sollen? Etwa, dass ich völlig unmusikalisch war und nicht einen einzigen Ton traf? Das war doch wohl kein Grund! Schließlich konnte ich leise mitsingen, damit man die schiefen Töne nicht hörte, zumindest jedoch versuchen, meine Lippen synchron zu bewegen.
Und letzten Endes war es doch so, dass jeder Mensch vom Heiland eine Gabe mitbekommen hatte. Nur 
, dass diese Gabe bei mir nun mal nicht im Gesang lag, hatte mir meine Grundschullehrerin, FrĂ€ulein Sundermann, bereits beim Vorsingen im ersten Schuljahr vor versammelter Mannschaft mit den Worten bescheinigt: »Singen kann er zwar nicht, aber Mut hat er wenigstens gehabt«. Na ja, das war vielleicht nicht gerade diplomatisch von ihr, aber sicherlich nicht böse gemeint. Leider half mir dieses Manko in unserer Kirche ĂŒberhaupt nicht. Meine Gesangskarriere im Jugendchor war eine abgekartete Sache.
Und schon bald sollte sich zum allgemeinen Frohlocken herauskristallisieren, dass meine Gabe, mit der mich der Herr Jesus ausgerĂŒstet hatte, zwar nicht im »Singen«, dafĂŒr aber in dem »Stemmen« des ĂŒber 200 Seiten starken grĂŒnen Liederbuchs lag. Na und ob! Und da ich in dieser Funktion, sozusagen als lebendiger NotenstĂ€nder, eine durchaus passable Figur abgab, waren die WĂŒrfel fĂŒr meine steile Karriere als Gesangbuchhalter gefallen. Danke »lieber« Jesus, dafĂŒr! Was er sich allerdings dabei gedacht hatte, mir zu allem Überfluss auch noch die Gabe »des weltlichen Fußballspielens« in die Wiege zu legen, wird wohl sein Geheimnis bleiben.
Allerdings erwies sich meine Aufgabe alles andere als ein Zuckerschlecken. Nun ja, ich musste das gewaltige Liederbuch so weit nach vorne recken und strecken, dass Text und Noten fĂŒr die Ă€lteren und grĂ¶ĂŸeren Geschwister, aber auch fĂŒr ein oder zwei Gitarrenspieler gut lesbar waren. Dabei mag ich wie ein kleiner Gewichtheber gewirkt haben – nur eben ohne Hantel. So hatte auch fĂŒr Mama und Papa mein peinliches Rumgezicke dann doch noch ein gutes Ende genommen. Ihr Sohn war mit von der Partie. Voller Stolz durften sie nun endlich die Komplimente der Geschwister fĂŒr ihren geschmeidigen Jesusjungen einstreichen, der sich dort vorne im Chor krampfhaft abmĂŒhte, Lobpreislieder zum Ruhme des Heilands zu trĂ€llern. Ihr kleiner Sohn hatte das Zeug dazu, ein kleiner »geleckter Lobe-den-Herrn SĂ€nger« zu werden.
Und noch heute ĂŒberkommt mich eine Mischung aus Beklommenheit und GĂ€nsehaut, wenn wir uns dann auf ein Zeichen bzw. Kopfnicken Matthias’ hin zum Chor formieren und vor der Gemeinde in Stellung bringen mussten. Dann galt es nĂ€mlich fĂŒr mich, und ich glaube fĂŒr einige andere auch, sich so gut es eben ging, vor den durchbohrenden Blicken der Prediger in Deckung zu bringen. Nun muss man wissen, dass diese Werkzeuge Gottes, die sie vorgaukelten zu sein, mit ihren stechenden Röntgenblicken unseren Seelenzustand im Nu erfassen und bloßlegen konnten: »Das Auge ist des Leibes Licht, wenn nun dein Auge einfĂ€ltig ist, so ist dein ganzer Leib licht; so aber dein Auge ein Schalk ist, so ist auch dein Leib finster« (Lukas 11, 34).
Und dieses erbarmungslose Anstarren, um festzustellen, »wes Geistes Kind wir waren«, habe ich gefĂŒrchtet wie der Teufel das Weihwasser. So war es dann auch nicht weiter ĂŒberraschend, dass die meisten von uns, sagen wir mal so, den blickgeschĂŒtzten Lobpreis aus der zweiten Reihe bevorzugten. Wenn man sich jedoch allzu auffĂ€llig versteckte, drohte der Schuss nach hinten loszugehen. Denn das kam einem SchuldeingestĂ€ndnis gleich, und zwar verbergen zu mĂŒssen, dass man »nicht wiedergeboren«, also kein »wahrer« Christ war. Im Nachhinein schon verrĂŒckt, welche Verrenkungen wir anstellen mussten, um unseren Heiland zu loben.
Kaum, dass ich meinen ersten Gesangsauftritt auf den Brettern dieser Welt, in dem Fall vor einer in die Jahre gekommenen Wandtafel eines Klassenraumes meiner Grundschule, hinter mich gebracht hatte, machte uns Matthias zur Schnecke, dass unser Gesang nicht zu einem gedankenlosen Runtersingen leerer WorthĂŒlsen verkommen dĂŒrfe. Dieses »Strahlen und Leuchten«, das wir aus voller Kehle rausposaunten: »Jugend fĂŒr Christus, Jugend voll Freud, Wonne und GlĂŒck, leuchtend und strahlend der Blick«; »Jesus, du meine Wonne, du meine Sonne, du hast mich lieb  «, musste sich einfach in unseren Gesichtern widerspiegeln. Zu Befehl, Matthias! Strahlender Blick! Leuchtendes Antlitz! So wird’s gemacht!
So war es dann auch nicht weiter verwunderlich, dass wir stets und stĂ€ndig mit einem aufgesetzten Dauergrinsen durch die Gegend rannten. Alle angespannt freundlich, alle verkrampft herzlich. Niemals ein böses Wort. Wir waren verdammt zum Strahlen fĂŒr Jesus, »unserem Herrn und Meister«. Und da der Gemeindegesang eine tragende SĂ€ule unseres Glaubens war, werde ich hierzu im Kapitel 25 noch einiges zu erzĂ€hlen haben.
Damit diese Wonne, dieser Wonneproppen, auch rein Ă€ußerlich sichtbar wurde, unterzog mich meine Mutter vor jeder Versammlung einer Spezialbehandlung. Ja genau! Wie es sich fĂŒr einen geschniegelten und gestriegelten Jesusjungen gehörte, steckte sie mich in eine festliche Kombination aus Sakko und Hose, Hemd und Krawatte. Ausstaffiert und fein rausgeputzt, dass die anderen sich an meinem Aussehen eine Scheibe abschneiden konnten, das war es, was sie selig machte. WĂ€hrend sie dann mit mir angab wie mit einem Sack SĂŒlze, fĂŒhlte ich mich einfach nur benutzt und zur Schau gestellt. Letztlich nur ein Mittel zum Zweck, um sie ins rechte Licht zu rĂŒcken.
So saß ich auch im Sommer in Schlips und Kragen in den Gottesdiensten, schwitzte artig vor mich...

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