1âGedankenexperimente
im Philosophie- und
Ethikunterricht
Gedankenexperimente
Helmut Engels
Adressaten
Jugendlichen und vor allem auch Kindern fĂ€llt es nicht schwer, sich auf Gedankenexperimente einzulassen. Sie sind noch nicht wie viele Erwachsene auf das Faktische fixiert. Sie können Gedankenreisen machen und sich eine Welt ausdenken, die mit der RealitĂ€t nicht viel gemeinsam hat. Fantasy und Science-Fiction tun ein Ăbriges, dass sie sich mit dem bloĂ Möglichen, mit dem Unwahrscheinlichen oder sogar mit dem Unmöglichen beschĂ€ftigen, und dies mit Lust. Gedankenexperimente sind aber nicht bloĂ luftige Gedankengebilde, erst recht keine eskapistischen Spielereien, vielmehr haben sie einen harten Kern, der mit bloĂem TagtrĂ€umen nichts zu tun hat.
Was sind Gedankenexperimente?
VorlÀufiges
Das Gedankenexperiment besteht in dem Versuch, auf der Grundlage kontrafaktischer Vorstellungen philosophisch relevante Erkenntnisse zu gewinnen oder zu vermitteln. Hiermit kompatibel ist die Formulierung: Gedankenexperimente sind wohldurchdachte Was-wĂ€re-wenn-Ăberlegungen, die dem Erkenntnisgewinn im Zusammenhang mit philosophischen Fragen dienen.
Solche mentalen Experimente gibt es in der Philosophie seit der Antike. Eine besondere Bedeutung haben sie in der analytischen Philosophie der Gegenwart gewonnen. Entsprechend modifiziert kommen sie auch in der Physik und in der Geschichtswissenschaft vor, man denke â was Letztere angeht â an die kontrafaktische oder experimentelle Geschichte. Die Fragen, zu deren Beantwortung Gedankenexperimente beitragen sollen, sind im Philosophieunterricht solche, die den Disziplinen der Philosophie zuzuordnen sind, aber auch der Philosophie als Lebensform. Hin und wieder sind sie ein Mittel, um Staunen zu erzeugen, etwa bei der Betrachtung von scheinbar SelbstverstĂ€ndlichem, das durch das Experiment seiner SelbstverstĂ€ndlichkeit entkleidet wird.
Im Folgenden wird die akademische Diskussion ĂŒber Wert und Reichweite des Gedankenexperiments ausgeklammert. Vielmehr geht es ausschlieĂlich um einen fĂŒr den Philosophie- und Ethikunterricht relevanten Begriff dieses Verfahrens und seine Anwendung und Vermittlung im Unterricht.
Strukturmomente des Gedankenexperiments
Idealtypisch dargestellt haben Gedankenexperimente folgende Strukturmomente:1
1) Zum Gedankenexperiment gehört eine Versuchsanordnung. Sie besteht aus ei- ner oder mehreren Annahmen. âAnnahmeâ bedeutet hier nicht Vermutung oder Hypothese, sondern eine bloĂe Vorstellung wie in dem Satz âNehmen wir einmal an, dass morgen die Welt untergehtâ. Die sprachlichen Einleitungen solcher Annahmen sind variabel, sie lauten z. B.: â Angenommen, man könnte ..., â Gesetzt, man habe ..., â Gehen wir einmal davon aus, dass ... oder â Stellt euch vor, X wollte ... Diese Annahmen könnten stets auch in einem Wenn-Satz ausgedrĂŒckt werden: â Wenn X nun die Eigenschaften c, d und e hĂ€tte, ... Die Annahmen des Gedankenexperiments werden nicht, wie das bei Vermutungen oder Hypothesen der Fall ist, auf ihre Berechtigung oder GĂŒltigkeit hin befragt. Sie sind vielmehr Katalysatoren, die bestimmte Gedanken in Gang setzen. Sie werden nur verĂ€ndert, wenn sie als Katalysatoren nicht taugen.
Die Versuchsanordnung kann aus einem einzigen Satz bestehen. Beispiel: âNehmen wir einmal an, ein Wissenschaftler hĂ€tte eine Substanz erfunden, die irdische Unsterblichkeit verleiht.â Sie kann auch höchst komplex sein. Searles Das Chinesische Zimmer etwa enthĂ€lt eine ganze Liste von PrĂ€missen.2 Es heiĂt da: Nehmen wir an, dass âŠ, Nehmen wir weiter an, âŠ, Nehmen wir nun weiterhin an, dass âŠ, Nehmen wir nun auch noch an âŠ, Nun stellen wir uns vor, dass ⊠und so weiter. Man kann solche Annahmen auch als die âPrĂ€missenâ des Gedankenexperiments oder als seine âBasisâ bezeichnen. Sinnvoll ist oft auch die Bezeichnung âhypothetisches Szenarioâ. Der Begriff âVersuchsanordnungâ macht deutlich, dass es um ein Experiment geht, mit dem man etwas herausfinden möchte. Dass es sich beim Gedankenexperiment um ein Experiment handelt, ist umstritten, insofern es lediglich als besondere Form der Argumentation aufgefasst wird. FĂŒr den Philosophie- und Ethikunterricht ist aber gerade der Experimentcharakter von Bedeutung, da die SchĂŒlerinnen und SchĂŒler so zu EigenaktivitĂ€t und Selbstdenken angeregt werden.
2) Der Versuchsanordnung folgt die Versuchsanweisung. Denn eine bloĂe Versuchsanordnung sagt noch nichts Genaues ĂŒber ihre Verwendung. Ich muss wissen, was ich mit dem Vorgestellten tun muss, welche Operationen ich durchzufĂŒhren habe. Die Experimentieranweisung kann als Imperativ auftreten, sie hat aber meist die Form einer Frage. Die Frage ist allerdings auch eine Art der Aufforderung.
Mit Blick auf die PrĂ€misse âNehmen wir einmal an, ein Wissenschaftler hĂ€tte eine Substanz erfunden, die irdische Unsterblichkeit verleihtâ könnte die Anweisung lauten: âSchildere, was in dem Kopf des Wissenschaftlers vor sich gehen könnte!â Als Frage formuliert kann die Anweisung lauten: âSollte der Wissenschaftler seine Erfindung geheim halten?â DarĂŒber lieĂe sich nachdenken oder diskutieren. Die Frage könnte aber auch lauten: âSollte der Wissenschaftler diese Substanz nur besonderen Menschen wie NobelpreistrĂ€gern oder groĂen KĂŒnstlern zugutekommen lassen?â Oder auch: âWĂŒrdest du diese Substanz nehmen? Wenn ja, warum, wenn nein, warum nicht?â Die Fragestellung zu ein und derselben Annahme kann recht unterschiedlich sein. Die Fruchtbarkeit bestimmter Szenarien kommt genau daher, dass sie unterschiedliche Operationen ermöglichen. In der Darstellung von Gedankenexperimenten fehlt zuweilen die auf das Szenario unmittelbar bezogene didaktische Experimentieranweisung.3 Die explizite Nennung einer solchen Anweisung ist jedoch sinnvoll, ja notwendig, wenn es darauf ankommt, dass die SchĂŒlerinnen und SchĂŒler selbst Gedankenexperimente auf der Grundlage vorgegebener PrĂ€missen durchfĂŒhren. Denn dann mĂŒssen sie genau wissen, was zu tun ist. In literarischen Texten und Filmen, die man als die anschauliche DurchfĂŒhrung von Gedankenexperimenten auffassen kann, fehlt natĂŒrlich die Nennung der beiden genannten Strukturmomente. Um Gedankenexperimente handelt es sich allerdings nur, wenn sich die beiden Strukturmomente aus dem Text selbst erschlieĂen lassen. So liegt dem bekannten Film Und tĂ€glich grĂŒĂt das Murmeltier von 1993 etwa die folgende PrĂ€misse zugrunde:
âš | Stell dir vor, dass ein Mensch mit einer negativen Lebenseinstellung gezwungen wird, ein und denselben Tag immer wieder zu erleben, bis er schlieĂlich herausgefunden hat, worin ein erfĂŒlltes Leben besteht. Verleihe diesem Menschen die Erinnerung an die Tage, die sich wiederholt haben, betraue ihn mit einer beruflichen TĂ€tigkeit und statte seine Welt mit Personen aus, die ihm mehr oder minder nahestehen und die auf sein Verhalten reagieren. |
Die sich hierauf beziehende Anweisung könnte lauten:
âš | Schildere anschaulich, welche Phasen dieser Mensch durchlaufen dĂŒrfte, bis er endlich aus der Zeitfalle erlöst wird. |
3) Das eigentliche Experiment, die DurchfĂŒhrung, besteht in den Ăberlegungen und Vorstellungen, die zur Realisierung der Anweisung bzw. zur Beantwortung der gestellten Frage fĂŒhren. In diese Ăberlegungen können noch weitere Voraussetzungen einbezogen werden, etwa moralische Normen, Wertentscheidungen, Erkenntnisse der Einzelwissenschaften, Einsichten aus der Lebenserfahrung, lebensweltliches Wissen usw. Je nach Aufgabe können die SchĂŒler und SchĂŒlerinnen das Experiment in Form eines diskursiven Textes oder einer anschaulichen Geschichte durchfĂŒhren. Ăblich jedoch sind UnterrichtsgesprĂ€che und Diskussionen.
Der Ausgang des Experiments sollte nicht von vornherein feststehen, da andernfalls gar nicht von einem Experiment die Rede sein könnte. Bei der LektĂŒre von Gedankenexperimenten muss man allerdings immer wieder feststellen, dass von der geforderten experimentellen Offenheit nicht die Rede sein kann. Der Autor weiĂ genau â und er zeigt dies auch dem Leser â, was bei seinen Ăberlegungen herauskommen soll. Allerdings zeigt die Erfahrung, dass die Ergebnisse der Autoren keineswegs immer identisch sind mit dem, was der selbstĂ€ndig denkende Leser herausbringt. Die PrĂ€missen der Experimente enthalten oft ein gröĂeres Potential, als von den Autoren realisiert wird. Im Unterricht kĂ€me es jedenfalls darauf an, geschlossene Gedankenexperimente in echte, also resultatsoffene Experimente zu verwandeln.
Zur Terminologie: In einer verkĂŒrzenden Redeweise wird auch die Kombination der Momente 1 und 2 schon als Gedankenexperiment bezeichnet, obwohl die DurchfĂŒhrung das eigentliche Experiment darstellt.
4) Das Gedankenexperiment sollte in einen gröĂeren Zusammenhang eingebettet sein, in dem eine Frage aufgetaucht ist, zu deren Beantwortung das Experiment einen Beitrag liefern kann. So kann das oben angefĂŒhrte Experiment zur Einnahme einer unsterblich machenden Substanz Anlass sein, ĂŒber die Verantwortung des Wissenschaftlers oder ĂŒber den Sinn des Todes nachzudenken. Und der Groundhog Day mag Antwort geben zu Fragen nach einem gelingenden Leben oder nach der Verbindlichkeit sittlicher Gebote und Verbote.
Das Gedankenexperiment im engen und im erweiterten Sinn
Den Begriff Gedankenexperiment kann man in einem engen, strengen und in einem...