Teil II.
1981
»Wie wird heute mit jenen umgegangen,
die ihren Widerstand gegen die Nazis
konsequent zu Ende brachten?«
Ein Vorwort von Bundesinnenminister Gerhart Baum (1981)
EdelweiĂpiraten-WandgemĂ€lde in Köln-Ehrenfeld, Foto: Roland Kaufhold.
Das Grundgesetz ist 32 Jahre alt! 32 Jahre besteht die Bundesrepublik Deutschland als ein demokratischer Staat, den wir uns nicht allein aufgebaut haben; die Demokratie ist von auĂen gekommen. Wie steht es heute mit unserem DemokratieverstĂ€ndnis, wie fest ist die Demokratie verankert, wie widerstandsfĂ€hig ist sie?
Wir hören allenthalben, unsere freiheitliche Demokratie habe sich bewĂ€hrt und werde von der ĂŒberwiegenden Mehrheit der BĂŒrger angenommen. Das darf aber nicht zu Selbstgerechtigkeit und satter Selbstzufriedenheit fĂŒhren. Wir mĂŒssen diese Demokratie fortwĂ€hrend mit Leben erfĂŒllen und sie weitertragen. Wir mĂŒssen jedem Wiederaufflackern von Intoleranz und Gewalt entgegentreten, sowie aufkeimenden Ressentiments gegen Andersdenkende und Anderslebende, gegen Minderheiten wie AuslĂ€nder, Juden und vielen anderen. Wir mĂŒssen den politischen Extremismus ĂŒberwinden. Unser politisches Handeln muss sich auf die tradierten Werte unserer politischen Kultur stĂŒtzen: den Glauben an die Vernunft, die WertschĂ€tzung des Individuums, die Verantwortlichkeit des einzelnen gegenĂŒber der Gemeinschaft im Rahmen einer rechtlichen Ordnung, die PluralitĂ€t der Werte und Weltanschauungen.
Peter Finkelgruen hat als Zeitgenosse zwei Jahrzehnte in der Bundesrepublik Deutschland gelebt. Er hat in dieser Zeit die Vergangenheit erlebt, sie intensiv, beinahe körperlich gespĂŒrt. Er hat sensibel wahrgenommen. Es ist ein grausames Verfahren, das Finkelgruen fĂŒr sich und fĂŒr seine GesprĂ€chspartner â sowohl fĂŒr die noch lebenden als auch fĂŒr die, die er in den Akten vorfand â gewĂ€hlt hat.
Er setzt sie einem harten und leidenschaftlichen Verhör aus. Sich selbst befragt er in der gleichen Weise. Er will ĂŒber sich selbst etwas erfahren, weil er glaubt, nur so auch etwas ĂŒber seinen »Fall« erfahren zu können. Und man ist versucht zu fragen, ob er am Ende vielleicht mehr ĂŒber sich als ĂŒber die handelnden Personen des »Falles« in Erfahrung gebracht hat.
Wo sind Finkelgruens Freunde? Er ist, wie er selbst einmal schrieb, als Jude fremd im eigenen Land. Ob er will oder nicht: er trifft hinter den Schreibtischen der BĂŒrokratie von heute Menschen an, die ihm als BĂŒrokraten von damals erscheinen. In seiner RigiditĂ€t mag Finkelgruen das eine oder andere ĂŒberzeichnet haben. Seine Sprache verzichtet weitgehend auf polemische Zuspitzung, aber zwischen den Zeilen wird die innere Spannung deutlich, die Finkelgruen aushalten musste, um nicht laut heraus zu schreien. Zu schreien, wie wenn man eine Entdeckung macht, die eine entsetzliche Tat unwiderruflich ans Tageslicht holt, so dass man sie nie wieder verschweigen kann.
Dieses Buch handelt von der Gegenwart. Es geht nur scheinbar um die EdelweiĂpiraten aus Köln-Ehrenfeld. Sie waren der ursprĂŒngliche Gegenstand des MitgefĂŒhls, der Empörung und der Trauer. Was sich aber dann dem Journalisten Finkelgruen eröffnete, war eine Kette von Einlassungen, Wertungen und Handlungen, die sich zum eigentlichen Gegenstand des »Falles« entwickelten.
Mit meinem Vorwort erspare ich dem Leser nicht das Nachvollziehen des Skandals, wie er sich dem Journalisten Finkelgruen darstellt. Das Buch liest sich nicht leicht: denn auch amtliche Papiere lesen sich nicht leicht. Mich bewegt die Betroffenheit, die sich bei Finkelgruen so stark entwickelt hat. Sein Urteil ist hart: fĂŒr ihn handelte der Kölner RegierungsprĂ€sident falsch; politisch, juristisch und moralisch falsch in der Beurteilung des »Falles«; alle, die sich auf sein Urteil berufen, machten sich mitschuldig.
Meine Angst gilt der Frage, ob man auch mit dem Juden Finkelgruen die Diskussion aufnimmt, nicht nur mit dem Journalisten Finkelgruen. Wird manseinen Zorn aus der persönlichen Betroffenheit fĂŒr berechtigt oder fĂŒr ĂŒberzogen und unmĂ€Ăig halten?
FĂŒr mich ist es unverstĂ€ndlich, dass man im Jahr 1981 noch immer an der These von der kriminellen Eigenschaft der EdelweiĂpiraten in Köln festhĂ€lt. Aber ich glaube auch, dass Bekenntnisse hier nichts nĂŒtzen. Nur die Auseinandersetzung fĂŒhrt weiter, die kontroverse Debatte und der rationale Dialog. Dies ist dann keine BewĂ€ltigung der Vergangenheit, sondern eine Leistung in der Gegenwart, ein StĂŒck politischer Kultur in den 80er Jahren fĂŒr uns selbst.
Peter Finkelgruen: Vorwort zum Buch (1981)
BartholomĂ€us-Schink-StraĂe in Köln-Ehrenfeld, Foto: Roland Kaufhold.
Das vorliegende Buch ist keine historische Studie. Ich gehe also auch mit dem Instrumentarium der Geschichtsforschung nicht so um, wie es auf den UniversitĂ€ten gelehrt wird. Die FĂŒlle und Aussagekraft der genannten Dokumente und die Aussagen von Zeitzeugen boten mir dennoch die nötige Sicherheit, von zwei feststehenden Tatsachen auszugehen:
Erstens: Am 10. November 1944 sind auf Befehl des ReichsfĂŒhrers SS 13 deutsche BĂŒrger am Bahndamm an der Ecke HĂŒtten- und SchönsteinstraĂe im Kölner Stadtteil Ehrenfeld öffentlich ermordet worden. Sie wurden aus politischen GrĂŒnden ermordet, weil die Gestapo in ihnen aktive WiderstĂ€ndler gegen den Nationalsozialismus erkannt hatte. Ihre öffentliche Ermordung wurde zur Abschreckung gegen den sich weiter regenden Widerstand eingesetzt.
Zweitens: Die in Köln fĂŒr Wiedergutmachung zustĂ€ndige Behörde, der RegierungsprĂ€sident, vertreten durch seinen Wiedergutmachungsdezernenten, lehnt es ab, die Ermordeten als Opfer des Nationalsozialismus anzuerkennen. Sie beruft sich dabei auf zwei Urteile von Kölner Gerichten, die auf Falschaussagen von beigezogenen Zeugen beruhen. Bei diesen Zeugen handelt es sich um ehemalige Gestapobeamte, die die WiderstĂ€ndler zur Zeit ihres Widerstandes in Köln-Ehrenfeld verfolgt hatten und dienstlich mit ihnen in der Haft zu tun hatten.
Ich versuche zweierlei: dem Leser sowohl Einblick in diesen Skandal zu vermitteln als auch meine Motivation fĂŒr die intensive BeschĂ€ftigung mit dem Fall darzulegen, denn die Auseinandersetzung mit dem Fall der Köln-Ehrenfelder WiderstĂ€ndler ist fĂŒr mich zu einem StĂŒck persönlicher Auseinandersetzung um IdentitĂ€t in diesem Land geworden.
Die Frage, warum ich mich seit dem Herbst 1978 mit der Geschichte der von der Gestapo 1944 verfolgten WiderstĂ€ndler beschĂ€ftige, beantwortet sich fĂŒr mich aus meiner Biographie â durch die Verquickung des eigenen Lebens mit der Geschichte von Opfern und TĂ€tern. Nach dem Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 wurde im Jahre 1965 eine Untersuchung ĂŒber die Reaktionen auf diesen Prozess veröffentlicht.2 In dieser Untersuchung wurden sehr verschiedene Reaktionen auf das Judentumsbewusstsein innerhalb der israelischen Bevölkerung erkennbar. Insbesondere die jungen Sabras scheinen durch das, was sie erfahren haben, in dem GefĂŒhl bestĂ€rkt worden zu sein, dass Judentum und Israel keine Synonyme sind.
Die jungen Israelis empfinden sich als sehr »verschieden« von den Juden, die sich »wie eine Viehherde abschlachten« lieĂen. Sie bezeigen fĂŒr die Opfer des Holocaust GefĂŒhle, in denen sich Mitleid, Nichtbegreifen und Distanz mischen. Einige sind sogar der Ansicht, dass, abgesehen vom Kampf einiger Partisanengruppen und dem Aufstand im Warschauer Ghetto, diese Zeit kein Ruhmesblatt in der Geschichte des Judentums darstellt.3 Dies ist nicht nur ein Problem der jungen Israelis. FĂŒr sie ist es nur ein absolut unverstĂ€ndlicher Vorgang, dass ein Volk sich ohne militanten Widerstand hat in die Gaskammern fĂŒhren lassen. lch entsinne mich eines heftigen GesprĂ€chs mit einem ĂŒberzeugten und engagierten Pazifisten. Obwohl mir der Pazifismus vordergrĂŒndig sehr sympathisch ist, wollte ich im GesprĂ€ch mit ihm feststellen, wo der Pazifismus an seine Grenzen stöĂt.
Es wollte mir nicht in den Sinn, dass die pazifistische Ăberzeugung im Zweifelsfalle dazu fĂŒhren könnte, dass man sich ohne jede Gegenwehr nach Auschwitz transportieren lassen könnte, um dort in Gaskammern getrieben zu werden. Mein GesprĂ€chspartner war etwas ratlos gegenĂŒber meinem Einwand. SchlieĂlich entzog er sich dem GesprĂ€ch, indem er sagte, nur ich könnte â allerdings mit Recht â dieses Argument einfĂŒhren.
Ich hatte das GefĂŒhl, dass er das Argument als unfair empfand. Da er das aber nicht sagen konnte, entzog er sich, indem er es als ein individualistisches Argument hinstellte. Erst spĂ€ter wurde mir bewusst, dass dieser wohlmeinende, von seinen Ideen der Friedfertigkeit ĂŒberzeugte Pazifist mich aus Hilflosigkeit auf mein Judentum verwies, dessen Erfahrungen er unmöglich ĂŒbernehmen konnte.
Die PassivitĂ€t der meisten von den Nazis Verfolgten und Ermordeten ist auch fĂŒr nicht-israelische Juden ein Problem. Die alltĂ€gliche Geschichte von meinem GroĂvater vĂ€terlicherseits, der es ablehnte, rechtzeitig aus Deutschland auszuwandern â unter Berufung auf das Eiserne Kreuz I. Klasse, das ihm im Ersten Weltkriegverliehen worden war â ist nicht geeignet, mit Stolz weitererzĂ€hlt zu werden. Meine christliche GroĂmutter, die mir diese Geschichte berichtete, kam schlieĂlich ins Konzentrationslager, weil sie ihn versteckt hatte, als ihm sein EK I auch nicht mehr weiterhalf. Sie hatte ihn zwar nicht ĂŒberreden können â oder wollen â, aus dem Machtbereich der Nazis und der Millionen von ZutrĂ€gern der Gestapo auszuwandern, aber immerhin hatte sie ihn versteckt.
Mein GroĂvater und meine GroĂmutter haben sich nicht erhoben gegen die bĂŒrgerlichen Barbaren um sie herum. Sie haben keine Kontakte zu Partisanen gehabt, keine Waffen versteckt. An der Liquidierung Heydrichs in Prag â wo sie verhaftet wurden â hatten sie keinen Anteil. Aber wenigstens haben sie nicht absolut tatenlos die ihnen von den Nazis abverlangte Rolle des zu vergasenden Opfers entsprechend den bĂŒrokratischen Vorschriften gespielt. Meine GroĂmutter hat diesen Mann in ihrer Wohnung versteckt, er hat sich nicht zum Abtransport
Esti FinkelgrĂŒn, eine Verwandte und Martin FinkelgrĂŒn in Karlsbad, Foto: Privat.
nach Theresienstadt gemeldet. Sie haben gemeinsam wenigstens eine Art von passivem Widerstand praktiziert.
Wenigstens etwas!
Meine Eltern â eine sogenannte Mischehe â haben den Abtransport auch nicht passiv abgewartet. Sie haben versucht, sich den Nazis durch Auswanderung zu entziehen, was ihnen scheinbar auch gelang. Ăber Litauen, Lettland, die Sowjetunion und Japan ging ihre Flucht bis nach Shanghai, wo fĂŒr die jĂŒdischen FlĂŒchtlinge aus Europa ein Ghetto eingerichtet wurde. Dort wurde ich geboren. Meine Eltern und GroĂeltern waren keine Partisanen. Sie waren keine aktiven WiderstĂ€ndler. Sie haben keine Bomben geworfen. Sie haben keinen SS-Mann, keinen NS-OrtsgruppenfĂŒhrer liquidiert. Obwohl diese ihnen den totalen Krieg â bis in die Gaskammern von Auschwitz hinein â erklĂ€rt hatten.
Mein GroĂvater wurde bereits in Theresienstadt von ihnen erschlagen. Mein Vater starb im Ghetto in Shanghai, meine Mutter kurz nach der Befreiung an den Folgen. Meine GroĂmutter ĂŒberlebte drei Jahre Konzentrationslagerhaft. Sie war in Theresienstadt, RavensbrĂŒck, Majdanek und Auschwitz. Erst dort, erst in Auschwitz, bekam sie Kontakt mit WiderstĂ€ndlern.
Nach ihren ErzĂ€hlungen waren es gröĂtenteils Kommunisten. Zum Beispiel Frau Dr. Zdenka NevÄdovĂĄ-NejedlĂĄ, die Tochter des spĂ€teren tschechoslowakischen Erziehungsministers. Mit ihr und anderen hatte meine GroĂmutter â der Prototyp der bĂŒrgerlichen Antikommunistin â auch nach dem Krieg persönlichen Kontakt. In Auschwitz haben sie sich gegenseitig geholfen, sich gegenseitig und anderen das Leben gerettet.
Ich erzĂ€hle das hier kurz, nicht um die Erfahrungen meiner Eltern und meiner GroĂeltern zu schildern, sondern um zu zeigen, wie wichtig es fĂŒr einen jungen Menschen ist, zu wissen, dass die eigenen Eltern oder sogar GroĂeltern sich nicht total passiv und ohne jegliche Gegenwehr den Nazis zwecks »Endlösung« ausgeliefert haben. Nach dem Krieg konnte ich gegenĂŒb...