WIR FĂRCHTEN UNS VOR DEM FALSCHEN
Beginnen wir mit der weitverbreiteten Furcht vor Chemikalien im Essen. »Das ist ja reine Chemie!«, denken viele Menschen, wenn sie die Inhaltsangaben diverser Lebensmittel lesen. Das stimmt natĂŒrlich â trifft aber auf die Himbeeren aus Omas Garten genauso zu wie auf die TiefkĂŒhlpizza aus dem Supermarkt. Dass TiefkĂŒhlpizza aber definitiv ungesĂŒnder ist als Himbeeren, liegt nicht daran, dass in der Pizza kĂŒnstlich erzeugte Chemikalien zu finden sind und im Obst rein natĂŒrlich entstandene. Es liegt nur an der Menge und Art der jeweiligen Inhaltsstoffe. Daher ist es wichtig, zu unterscheiden, was in welcher Menge schĂ€dlich ist oder die QualitĂ€t eines Produkts beeinflussen kann.
Es ist das eine, auf akute Gefahren wie Vergiftungen rasch zu reagieren. Etwas gĂ€nzlich anderes und mit Blick auf die ErnĂ€hrung hĂ€ufig Relevanteres ist es aber, langfristige Risiken angemessen einzuschĂ€tzen. Wenn es um mögliche Gefahren geht, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in Jahren oder Jahrzehnten eintreten könnten, neigen wir bisweilen dazu, uns vor dem Falschen zu fĂŒrchten. Der Risikoforscher Ortwin Renn hat dafĂŒr den Begriff »Risikoparadox« geprĂ€gt.1
Eine unserer irrationalen Ăngste betrifft beispielsweise, Opfer eines Terroranschlags zu werden. Obwohl die Wahrscheinlichkeit dafĂŒr fĂŒr Menschen, die in westlichen Industrienationen leben, Ă€uĂerst gering ist, treibt uns die Angst davor mitunter zu Entscheidungen, die wirklich mit erhöhten Risiken verbunden sind. Eine Studie, die in diesem Kontext gerne angefĂŒhrt wird, betrifft die TerroranschlĂ€ge in New York vom 11. September 2001. Aus Angst vor einer FlugzeugentfĂŒhrung sind in den darauffolgenden Monaten viele US-Passagiere mit dem Auto statt mit dem Flugzeug gereist. Die Folge war ein signifikanter Anstieg des Autoverkehrs â und auch der tödlichen UnfĂ€lle auf US-StraĂen. Insgesamt gab es in den drei Monaten nach den AnschlĂ€gen mehr Unfalltote, bedingt durch Autofahrer, die das Flugrisiko vermeiden wollten, als Opfer der TerroranschlĂ€ge vom 11. September 2001.2
Was die ErnĂ€hrung angeht, ist unsere Furcht vor dem Falschen besonders ausgeprĂ€gt. Viele Menschen betrachten beispielsweise argwöhnisch kĂŒnstlich erzeugte Aromastoffe, die auf der RĂŒckseite von Lebensmittelverpackungen angefĂŒhrt sind, und versuchen, diese tunlichst zu vermeiden â auch wenn sie keine nachweislichen Gesundheitsrisiken darstellen. Andererseits scheuen sie nicht davor zurĂŒck, Substanzen, die bekanntermaĂen schĂ€dlich sein können, wie Alkohol, Transfette oder Zucker, ĂŒppig zu konsumieren.
Um zu ergrĂŒnden, mit welchen Chemikalien wir es bei unserem Essen zu tun haben, bedarf es zunĂ€chst einer kleinen EinfĂŒhrung in die Welt der chemischen Bausteine. Los gehtâs!
DER CHEMISCHE AUFBAU DER WELT
Wenn man die Welt durch die Brille der Chemie betrachtet, wird sichtbar, dass im Grunde alles um uns aus denselben Bausteinen besteht â den Atomen. Die Idee, dass alles aus Atomen gemacht ist, geht bis in die Antike zurĂŒck. Doch noch Anfang des 20. Jahrhunderts stritten sich Wissenschaftler darĂŒber, ob Atome tatsĂ€chlich existieren.
LegendĂ€r sind beispielsweise die Auseinandersetzungen zwischen dem österreichischen Physiker Ludwig Boltzmann, der ein vehementer FĂŒrsprecher des Atomismus war, und seinem VorgĂ€nger am Wiener Lehrstuhl fĂŒr Naturphilosophie, Ernst Mach. Mach pflegte Boltzmanns Ăberzeugung, dass Atome existieren, sĂŒffisant mit der Bemerkung »Hamâs ans gâsehen?« in breitem Wienerisch abzutun. Einen wichtigen Beitrag zur Lösung des Streits leistete schlieĂlich 1905 ein junger Angestellter des Berner Patentamts und noch weitgehend unbekannter Physiker: Albert Einstein. Er konnte die durch Mikroskopbeobachtungen bekannte sogenannte Brownsche Bewegung von kleinen Körnchen durch zufĂ€llige StöĂe von Atomen oder MolekĂŒlen erklĂ€ren. Damit war eine eindrucksvolle Lanze fĂŒr den Atomismus gebrochen, den bald auch die Zweifler akzeptieren mussten. Inzwischen können wir Atome mit speziellen Mikroskopen detailliert beobachten.
Die altgriechische Wurzel des Worts Atom ist ĂĄtomos, was unteilbar bedeutet. Mittlerweile ist allerdings klar, dass Atome aus noch kleineren Teilchen bestehen. Im Kern der Atome ist die Masse konzentriert. Er besteht aus elektrisch positiv geladenen Protonen und neutralen Neutronen, die ihrerseits aus noch kleineren Teilchen zusammengesetzt sind â den Quarks. Der Atomkern wird umgeben von negativ geladenen Elektronen.
Je nachdem, wie viele Protonen ein Atom hat, handelt es sich dabei um ein bestimmtes Element. Ungeladene Atome besitzen gleich viele Protonen wie Elektronen. Gibt es einen Ăberschuss oder Mangel an Elektronen, hat man es mit geladenen Atomen zu tun â sie werden Ionen genannt. Atome des Elements Wasserstoff bestehen beispielsweise aus einem Proton, einem Elektron und keinem Neutron. Heliumatome wiederum setzen sich aus zwei Protonen, zwei Neutronen und zwei Elektronen zusammen. Das Element mit der gröĂten Anzahl an Protonen ist nach derzeitigem Stand Oganesson â es besitzt gar 118 Protonen, 176 Neutronen und 118 Elektronen. Sollte man Oganesson also unbedingt als Rekordhalter im LangzeitgedĂ€chtnis abspeichern? Nicht unbedingt, denn es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis ein Element entdeckt wird, dessen Atome noch mehr Protonen aufweisen.
Schon im antiken Griechenland haben sich die Menschen Gedanken darĂŒber gemacht, aus welchen Elementen oder Essenzen alles in der Welt besteht. Eine beliebte Vorstellung war damals, dass es vier Grundelemente gibt: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Etliche griechische Denker stellten sich vor, dass alles Seiende aus einer Mischung dieser vier Elemente besteht â diese Ansicht kommt beispielsweise in den philosophischen Dialogen von Platon zum Ausdruck.
Ein anderes Thema, mit dem sich Platon intensiv in seinen Schriften beschĂ€ftigte, hat auf den ersten Blick wenig mit Chemie zu tun: Im Dialog Symposion unterhalten sich die griechischen Gelehrten und Schriftsteller ausfĂŒhrlich ĂŒber Liebe und Erotik. Aristophanes erinnert die Runde daran, dass Eros die Kraft sei, die dem Menschen zum gröĂten GlĂŒck verhilft. UrsprĂŒnglich seien die Menschen von titanischer Natur gewesen â kugelförmig, doppelköpfig, androgyn oder von zweifacher gleicher Geschlechtlichkeit. Doch wegen ihres Versuchs, sich mit den Göttern anzulegen, seien sie von Zeus gespalten worden.3 Seitdem sehne sich jeder nach seiner verlorenen HĂ€lfte. »Jeder von uns ist daher nur ein TeilstĂŒck eines Menschen«, wird Aristophanes von Platon zitiert, »da wir ja, zerschnitten wie die Schollen, aus einem zwei geworden sind. Jeder sucht demnach bestĂ€ndig sein GegenstĂŒck.«4 Liebe ist demzufolge immer Liebe zu etwas, sie bedarf also dessen, wonach sie sich sehnt.5
Man könnte sagen, dass Platon damit ein Grundprinzip allen menschlichen Strebens getroffen hat. Zugleich ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass es in gewisser Hinsicht auch in der Chemie immer nur um das eine geht: Es dauerte beinahe 2000 Jahre, bis sich die Menschen von der Vier-Elemente-Lehre verabschiedet hatten und schlieĂlich zur heutigen Vorstellung von Elementen fanden. DafĂŒr gibt es einen offensichtlichen Grund: Wie wir heute wissen, kommen die Elemente selten in Reinform vor. In den allermeisten FĂ€llen verbinden sie sich mit anderen Elementen. Sie gehen sozusagen Beziehungen ein, zu zweit, zu dritt oder zu Tausenden. Manche sind einander lange treu, andere bevorzugen Abwechslung. Sobald sich ein Gespann von Atomen eines oder mehrerer Elemente gefunden hat, spricht man von einem MolekĂŒl.
MolekĂŒle können also aus Atomen eines einzigen Elements bestehen. Ein prominentes Beispiel dafĂŒr ist der fĂŒr uns lebensnotwendige molekulare Sauerstoff O2 â er setzt sich (richtig geraten!) aus zwei Sauerstoffatomen zusammen, die jeweils mit dem Buchstaben O abgekĂŒrzt werden. Doch das ist eher selten, in der Regel finden sich Atome unterschiedlicher Elemente zusammen. Und um zu Platons Symposion zurĂŒckzukehren, könnte man sagen, dass sie dabei ein bestimmtes Begehren verfolgen. Das BedĂŒrfnis, Bindungen einzugehen, hĂ€ngt maĂgeblich von ihren negativ geladenen Teilchen ab: den Elektronen. Sehr vereinfacht kann man sich vorstellen, dass die Elektronen den Atomkern in verschiedenen AbstĂ€nden wie die Schalen einer Zwiebel umgeben. In der ersten Schale haben zwei Elektronen Platz, in jeder weiteren acht.
Es ist wichtig zu betonen, dass das Schalenmodell nur eine anschauliche Art ist, das Atom zu beschreiben. Auch wir Wissenschaftler kennen die letzte Wahrheit nicht. Wir können aber versuchen, Modelle aufzustellen, die unsere experimentellen Befunde möglichst gut beschreiben. Es gibt auch komplexere Modelle als das Schalenmodell, die noch nÀher an die Wirklichkeit heranreichen. Aber zur anschaulichen ErklÀrung taugt die Zwiebel allemal.
Um zu verstehen, warum Atome Bindungen eingehen, muss man wissen, dass alle Atome einen Tick haben: Sie wollen unbedingt ihre Ă€uĂerste Schale mit Elektronen auffĂŒllen. Damit das gelingt, schlieĂen sie sich zu MolekĂŒlen zusammen und teilen sich gewissermaĂen ihre Ă€uĂersten Elektronen. Ein Beispiel: Bei WassermolekĂŒlen H2O teilt sich das Sauerstoff atom je ein Elektron mit den beiden Wasserstoffatomen â Letztere werden mit H abgekĂŒrzt. Wenn jeder Partner ein Elektron einbringt, spricht man von Einfachbindung. Durch diese zwei Einfachbindungen können sowohl die Wasserstoffatome wie auch das Sauerstoffatom ihre BedĂŒrfnisse nach Elektronen befriedigen. Ein anderes Beispiel ist der molekulare Sauerstoff O2. Hier trĂ€gt jedes der beteiligten Sauerstoffatome zwei Elektronen bei â in so einem Fall spricht man von einer Doppelbindung oder Zweifachbindung, die im Allgemeinen stĂ€rker als die vergleichbare Einfachbindung ist. Bei einer Dreifachbindung sind gar drei Elektronenpaare beteiligt, was sie stĂ€rker als die anderen Bindungen macht â mehr dazu spĂ€ter.
In der Chemie befassen wir uns selten mit den Elementen in ihrer reinen Form. Im Wesentlichen geht es uns um Reaktionen und die Verbindungen, die Atome mit einander eingehen. So manch einer wĂŒrde daher so weit gehen zu behaupten, dass man die halbe Chemie in einem Satz, wie folgt, zusammenfassen kann: »Atome, denen auf ihrer Ă€uĂeren Ebene Elektronen fehlen, werden tauschen, betteln, kĂ€mpfen, BĂŒndnisse schmieden oder brechen und alles Erdenkliche tun, was nötig ist, um auf die richtige Anzahl zu kommen.«6 Und genau dieser Tauschhandel und Machtkampf der Elektronen findet tagtĂ€glich in unserem Körper statt, wenn uns nach bestimmten Nahrungsmitteln gelĂŒstet oder wir sie im Stoffwechsel verarbeiten. Okay, wahrscheinlich spielen auch noch ein paar andere Faktoren eine Rolle, aber immerhin eröffnet der chemische Blick auf unsere Teller einige erhellende Einsichten. Ich hoffe, Sie haben jetzt Appetit bekommen, mehr darĂŒber zu erfahren.
TAUSENDE CHEMIKALIEN IM ESSEN
Ein zentraler Bestandteil unseres Essens sind Kohlenhydrate. Chemisch gesehen, sind Kohlenhydrate Substanzen, die aus ein oder mehreren ZuckermolekĂŒlen bestehen. Die einfachste Form von Kohlenhydraten sind sogenannte Einfachzucker, oder Monosaccharide, die aus einem einzigen ZuckermolekĂŒl bestehen. Dazu zĂ€hlen Traubenzucker, unter Chemikern besser als Glucose bekannt, oder Fruchtzucker, der chemisch als Fructose bezeichnet wird. Sowohl Trauben- als auch Fruchtzucker besteht aus denselben Atomen, sie haben allerdings einen unterschiedlichen Aufbau. Man kann sich chemische Reaktionen ein wenig wie Legospielen vorstellen: Es gibt verschiedene Bausteine, die Atome, und wenn man gewisse Konstruktionsregeln befolgt, lassen sich mit ihnen verschiedene Strukturen, die MolekĂŒle, zusammenbauen. So kommt es, dass man aus genau denselben Atomen zwei unterschiedliche MolekĂŒle zusammensetzen kann.
Vereinfacht gesehen, lĂ€sst sich der menschliche Körper als eine Art Glucosemotor beschreiben: Traubenzucker ist das MolekĂŒl, um das sich in unserem Stoffwechsel alles dreht. Pro Tag verbraucht der menschliche Körper im Ruhezustand rund 200 Gramm Glucose, 75 Prozent davon benötigt allein das...