Medizin ohne Ärzte
eBook - ePub

Medizin ohne Ärzte

Ersetzt kĂŒnstliche Intelligenz die menschliche Heilkunst?

Christian Maté

Partager le livre
  1. 176 pages
  2. German
  3. ePUB (adapté aux mobiles)
  4. Disponible sur iOS et Android
eBook - ePub

Medizin ohne Ärzte

Ersetzt kĂŒnstliche Intelligenz die menschliche Heilkunst?

Christian Maté

DĂ©tails du livre
Aperçu du livre
Table des matiĂšres
Citations

À propos de ce livre

Bessere Diagnosen und effizientere Therapien durch kĂŒnstliche Intelligenz?Das große Thema: Wie sieht die Zukunft der Medizin aus und was bedeutet sie fĂŒr die Patienten? Der Einsatz von Artificial Intelligence und Big Data in Diagnostik und Therapie hat das Potenzial, das SelbstverstĂ€ndnis der Mediziner in seinen Grundfesten zu erschĂŒttern. Was ĂŒber Jahrhunderte als Ă€rztliche Kunst bezeichnet wurde, können Maschinen zum Teil schon jetzt besser: Krankheiten diagnostizieren, individuelle Behandlungen auswĂ€hlen oder operative Eingriffe durchfĂŒhren. Sind Ärzte aus Fleisch und Blut schon bald ĂŒberflĂŒssig? Was hat der Patient der Zukunft zu erwarten? Christian MatĂ©, selbst Mediziner, geht dieser Frage auf den Grund und entwickelt spannende Thesen fĂŒr die digitale Zukunft.

Foire aux questions

Comment puis-je résilier mon abonnement ?
Il vous suffit de vous rendre dans la section compte dans paramĂštres et de cliquer sur « RĂ©silier l’abonnement ». C’est aussi simple que cela ! Une fois que vous aurez rĂ©siliĂ© votre abonnement, il restera actif pour le reste de la pĂ©riode pour laquelle vous avez payĂ©. DĂ©couvrez-en plus ici.
Puis-je / comment puis-je télécharger des livres ?
Pour le moment, tous nos livres en format ePub adaptĂ©s aux mobiles peuvent ĂȘtre tĂ©lĂ©chargĂ©s via l’application. La plupart de nos PDF sont Ă©galement disponibles en tĂ©lĂ©chargement et les autres seront tĂ©lĂ©chargeables trĂšs prochainement. DĂ©couvrez-en plus ici.
Quelle est la différence entre les formules tarifaires ?
Les deux abonnements vous donnent un accĂšs complet Ă  la bibliothĂšque et Ă  toutes les fonctionnalitĂ©s de Perlego. Les seules diffĂ©rences sont les tarifs ainsi que la pĂ©riode d’abonnement : avec l’abonnement annuel, vous Ă©conomiserez environ 30 % par rapport Ă  12 mois d’abonnement mensuel.
Qu’est-ce que Perlego ?
Nous sommes un service d’abonnement Ă  des ouvrages universitaires en ligne, oĂč vous pouvez accĂ©der Ă  toute une bibliothĂšque pour un prix infĂ©rieur Ă  celui d’un seul livre par mois. Avec plus d’un million de livres sur plus de 1 000 sujets, nous avons ce qu’il vous faut ! DĂ©couvrez-en plus ici.
Prenez-vous en charge la synthÚse vocale ?
Recherchez le symbole Écouter sur votre prochain livre pour voir si vous pouvez l’écouter. L’outil Écouter lit le texte Ă  haute voix pour vous, en surlignant le passage qui est en cours de lecture. Vous pouvez le mettre sur pause, l’accĂ©lĂ©rer ou le ralentir. DĂ©couvrez-en plus ici.
Est-ce que Medizin ohne Ärzte est un PDF/ePUB en ligne ?
Oui, vous pouvez accĂ©der Ă  Medizin ohne Ärzte par Christian MatĂ© en format PDF et/ou ePUB ainsi qu’à d’autres livres populaires dans Biological Sciences et Essays on Science. Nous disposons de plus d’un million d’ouvrages Ă  dĂ©couvrir dans notre catalogue.

Informations

Éditeur
Residenz Verlag
Année
2020
ISBN
9783701746385

Kapitel 1:

Gut versorgte Patienten leben lÀnger

Drei WĂŒnsche an den AI-Doktor

Als Ende der 1990er-Jahre die ersten europĂ€ischen Gesundheitsportale, unbestreitbar inspiriert von ihren US-amerikanischen Vorbildern, gelauncht wurden, war die Aufregung in den medizinischen Communities groß. Vor allem innerhalb der Ärzteschaft wurde allen Ernstes die Frage diskutiert, ob eine derart weitgehende medizinische Information fĂŒr Laien ĂŒberhaupt zulĂ€ssig sei oder ob sie nicht vielmehr eine systematische Sabotage des impliziten Behandlungsvertrages zwischen Arzt und Patient bedeute. Als Chefredakteur und spĂ€terer Co-EigentĂŒmer der österreichischen Tochter des dĂ€nischen Start-ups netdoktor wurde ich in Interviews vor allem gefragt, ob der Besuch eines Gesundheitsportals den Arztbesuch ersetzen könne beziehungsweise solle. Ich war stets froh, dass ich diese Frage aus ganzem Herzen verneinen konnte und nicht in diplomatisches Geschwurbel ausweichen musste. netdoktor und die anderen medizinischen Internetangebote fĂŒr Laien und Patienten wurden tatsĂ€chlich als komplementĂ€re Services zum Arztbesuch gegrĂŒndet. Vorab informierte Patienten – so die Hypothese – können den Arzt besser verstehen und trauen sich eher Fragen zu stellen. »Patienten, die viel fragen, sind Ă€ußerst lĂ€stig«, hat ein großer österreichischer Mediziner einmal in seiner Vorlesung gesagt und dann hinzugefĂŒgt: »Aber sie leben lĂ€nger.« Das bringt es auf den Punkt: Durch fachlich korrekte und fĂŒr Laien verstĂ€ndliche Informationen zu Krankheiten, Untersuchungen und Therapien werden die Patienten in der Beziehung zum Arzt gestĂ€rkt, sie werden fordernder, in vielen FĂ€llen mĂŒhsamer, aber eben auch gleichberechtigter in ihrer Verantwortung fĂŒr die eigene Gesundheit.
NatĂŒrlich beschrĂ€nkt sich der Nutzen von leicht verfĂŒgbaren, allgemein verstĂ€ndlichen Gesundheitsinformationen nicht auf den Arztbesuch selbst. Studien zeigen, dass Patienten 40 bis 80 Prozent der Informationen des Arztes beim Verlassen der Praxis bereits wieder vergessen haben. Das liegt vor allem daran, dass sie sich auf die Diagnose konzentrieren und darauf, was diese fĂŒr ihr weiteres Leben bedeutet. Die Informationen des Arztes betreffen hingegen meist die Therapie und die ist nicht so stark emotional besetzt. Jedenfalls bieten Gesundheitsportale den Patienten die Möglichkeit, wesentliche Informationen zu ihrer Erkrankung und zur vom Arzt verordneten Therapie nach dem Arztbesuch nachzulesen – ein Umstand, der nachweislich einen Beitrag zur sogenannten AdhĂ€renz leistet, also zur FĂ€higkeit und Motivation, die Therapie in der vom Arzt beabsichtigten Form anzuwenden.
Damals, im PleistozĂ€n des Internets, hieß Digital Healthcare noch »e-Health« und von einer Medizin ohne Ärzte war natĂŒrlich keine Rede. Zu weit weg waren die damals verfĂŒgbaren Angebote von den eigentlichen Prozessen des Gesundheitswesens, fĂŒr die die bloße Bereitstellung von Informationen lediglich die Baseline zur eigentlichen Melodie darstellte: dem Erheben von Befunden in den Arztpraxen, Labors und Röntgeninstituten, der Zusammenarbeit zwischen Arzt und Apotheker beim Einsatz von Medikamenten, den manuellen und zum Teil invasiven Interventionen auf den Behandlungstischen und in den OperationssĂ€len.
Das hat sich nun fundamental geĂ€ndert. Die lernenden Programme, die unter dem vielversprechenden und sympathisch unprĂ€zisen Label »Artificial Intelligence« (AI) in so gut wie alle Branchen hineindiffundieren, sind gerade dabei, sich als echte Gamechanger im Gesundheitswesen zu etablieren. Lassen wir einmal die AI-unterstĂŒtzte Erfassung unstrukturierter Daten und die Kommunikation im Sinne von Assistenzsystemen außer Acht und konzentrieren wir uns auf die drei SchlĂŒsselthemen im Gesundheitswesen: Diagnostik, Therapie und Versorgung.

Bessere Diagnostik – Krankes frĂŒher erkennen

In seinem 1910 uraufgefĂŒhrten TheaterstĂŒck »Anatol« lĂ€sst Arthur Schnitzler, im Zweitberuf Arzt, seine Hauptfigur sagen: »Es gibt so viele Krankheiten und nur eine Gesundheit –! 
 Man muss immer genau so gesund wie die andern – man kann aber ganz anders krank sein wie jeder andere!« Der Gedanke hat zweifellos etwas, aber die meisten Patienten betrachten ihre Erkrankung weniger als Ausdruck ihrer IndividualitĂ€t denn als Zustand, den es so rasch wie möglich zu beenden gilt. Und dabei kann die Vielfalt durchaus hinderlich sein. Die moderne Krankheitslehre, systematisch erfasst und kategorisiert im sogenannten ICD, der International Classification of Diseases, kennt in seiner ab 2022 gĂŒltigen Version, dem ICD-11, mehr als 55 000 verschiedene Arten, nicht gesund zu sein. Dazu zĂ€hlen sogenannte Volkskrankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck oder Asthma am einen Ende des Spektrums und sogenannte seltene Erkrankungen, also Krankheiten, von denen nur ein geringer Anteil der Bevölkerung betroffen ist, am anderen Ende. Knapp ĂŒber zehn Prozent aller im ICD-10 erfassten Krankheitsbilder fallen in die Kategorie »selten«. Als selten gelten in Europa Erkrankungen, an denen nicht mehr als eine von 2000 Personen leidet. Zu den bekanntesten seltenen Erkrankungen zĂ€hlen etwa die HĂ€mophilie, eine angeborene Gerinnungsstörung des Blutes, die cystische Fibrose, bei der zĂ€her Schleim Lunge und andere Organe verstopft, oder die auch als Glasknochenkrankheit bezeichnete Osteogenesis imperfecta.
Von der idiopathischen Lungenfibrose etwa, einer Krankheit, bei der es zur schrittweisen Vernarbung der Lunge und damit zu fortschreitender Atemnot kommt, sind 65 bis 90 von 100 000 Menschen betroffen. Eines der Probleme in der Diagnostik dieser seltenen Erkrankung ist der Umstand, dass sie ganz Ă€hnliche Beschwerden hervorruft wie die wesentlich hĂ€ufigere, zu den Volkskrankheiten zĂ€hlende COPD, also Atemnot, chronischen Husten und MĂŒdigkeit. In der Lunge spielen sich allerdings zwei ganz unterschiedliche Prozesse ab. Im Fall der COPD kommt es – meist als Folge chronischen Tabakkonsums – zu einer fortschreitenden Verengung der Bronchien, was zwar nicht umkehrbar, aber doch ĂŒber weite Strecken symptomatisch einigermaßen gut behandelbar ist. Anders verhĂ€lt es sich mit der idiopathischen Lungenfibrose, der IPF. Bei dieser erblichen Erkrankung kommt es zu einer bindegewebigen Vernarbung und Versteifung der gesamten Lunge, ein Prozess, der bis vor einigen Jahren therapeutisch ĂŒberhaupt nicht positiv beeinflussbar war. Mittlerweile sind zwei Medikamente fĂŒr die Behandlung der IPF zugelassen. Beide haben in Studien gezeigt, dass sie das Fortschreiten der Erkrankung zwar nicht stoppen, aber doch verlangsamen können. Es liegt auf der Hand, dass ein möglichst frĂŒher Einsatz den Patienten LebensqualitĂ€t und Lebensjahre schenken kann. Denn ist erst einmal ein großer Anteil des Lungengewebes durch Bindegewebe ersetzt, bleibt hĂ€ufig nur die Transplantation einer Spenderlunge als letzter Ausweg.
Was das alles mit den Cyberdocs der Zukunft zu tun hat? Nun, Studien zeigen, dass die Diagnose einer idiopathischen Lungenfibrose im Schnitt mit einer Verzögerung von 2,1 Jahren gestellt wird. Zum Teil liegt das Problem dabei auf der Seite der Patienten, die erst verspĂ€tet zum Arzt gehen, ein wesentlicher Teil fĂ€llt jedoch in die SphĂ€re des Arztes, der die Symptome und die Untersuchungsergebnisse nicht richtig interpretiert. Weder dem Hausarzt, der so einen Patienten jahrelang immer wieder aus verschiedenen GrĂŒnden in der Praxis hat, noch dem Lungenfacharzt, der ihn ebenso lange als COPD-Patient behandelt, ist dabei ein Vorwurf zu machen. Kein Gehirn der Welt kann sich die Symptome samt HĂ€ufigkeiten von Tausenden Erkrankungen merken. Im Medizinstudium und auch spĂ€ter in der praktisch-klinischen Ausbildung lernen Ärzte eine wenig originelle, aber logisch unantastbare Regel: HĂ€ufiges ist hĂ€ufig und Seltenes ist selten. Mögen exotische Erkrankungen auch noch so drollige und leicht merkbare Namen oder anspruchsvolle Krankheitsmechanismen haben – die diagnostische Wahrheit ist eben in den meisten FĂ€llen recht banal und hat mit dem Flipchart von Dr. House wenig zu tun. Wenn man Hufgetrampel hört, lautet der zweite Merksatz fĂŒr den aufstrebenden Diagnostiker, so handelt es sich zumindest in unseren Breiten sehr wahrscheinlich um Pferde und nicht um Zebras, ganz gleich, wie schick und aufregend es wĂ€re, Letzteren einmal zu begegnen.
Dennoch: ZĂ€hlt man die Betroffenen aller seltenen Erkrankungen zusammen, so erhĂ€lt man eine wahrlich gewaltige Herde von Zebras, und das bedeutet verzögerte Diagnosen in vielen Millionen von FĂ€llen. Und hier kommen die Maschinen ins Spiel: TatsĂ€chlich gibt es schon seit LĂ€ngerem medizinische Expertensysteme. Das sind mehr oder weniger komplexe Softwareprogramme, die, vollgestopft mit diagnostischen Algorithmen, dem kognitiv ĂŒberforderten Arzt zur Seite stehen – theoretisch. In der Praxis konnten diese Programme nie so richtig durchstarten. Bereits 1972 wurde an der Harford University zum Beispiel ein sehr treffsicheres Programm namens MYCIN fĂŒr die Diagnostik und Therapie von Infektionskrankheiten entwickelt. In der Praxis zĂŒndeten MYCIN und andere klassische Expertensysteme aber nicht wirklich und das lag unter anderem an mangelnder Breite. FĂŒr die FrĂŒherkennung von seltenen Krankheiten quer ĂŒber die Organgrenzen hinweg waren diese Tools Ă€hnlich sinnvoll wie ein Suchscheinwerfer, der nur in eine Richtung leuchtet.
Jetzt, im Zeitalter der lernenden Maschinen, sieht das schon ganz anders aus. Stellen Sie sich einen Computer vor, der mit allen Algorithmen der gesamten Medizin von Asthma bis Zöliakie gefĂŒttert wurde. Experten aus den verschiedenen Fachdisziplinen haben ihn in einem Frage-Antwort-Spiel ĂŒber Monate trainiert wie ein kleines Kind. Irgendwann hat er den Dreh raus und ist ein absoluter Superdiagnostiker, der kaum eine Krankheit ĂŒbersieht. WĂŒrden Sie als Patient freiwillig auf Cyberdoc’s FĂ€higkeiten verzichten, nur weil er Strom statt MĂŒsli frĂŒhstĂŒckt? Eben.

PrĂ€zisere Therapie – individuell und immer auf dem letzten Stand

Die Medizin ist zwar selbst keine Wissenschaft, aber als Ärzte ab Ende des 18. Jahrhunderts begannen, einen systematisierten Blick in das Innere von Leichen zu werfen, hat sie den Anspruch, auf einer wissenschaftlichen Grundlage zu stehen. Forscher entwickeln moderne Therapien anhand von biochemischen, mechanischen oder physikalischen Modellen und testen diese zunĂ€chst an Zellen, dann bei Tieren und letztlich im Rahmen von klinischen Studien beim Menschen. An diesem Punkt verlagert die Medizin ihre Perspektive von jener einer klassischen naturwissenschaftlichen Disziplin in den Bereich der Mathematik, genauer der Statistik. Nehmen wir einmal an, Medikament X hat in einer Studie mit 300 Teilnehmern gezeigt, dass es die Symptome von Asthmapatienten wirksamer bekĂ€mpft als eine Scheinmedikation. Ein ganz bestimmter Patient – nennen wir ihn Paul – bekommt nun von seinem Arzt Medikament X anstelle seines bisherigen Asthmamittels Y verschrieben, weil aufgrund der Studien zu Y und X eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, dass Paul von X mehr profitiert als von Y. Das setzt aber voraus, dass Paul den Teilnehmern der Studien Ă€hnlich ist, und zwar nicht nur auf der ganz oberflĂ€chlichen Ebene, was seine Diagnose (Asthma), sein Geschlecht (Mann) und sein Alter (sagen wir 25) betrifft, sondern auch in seinem Geno- und PhĂ€notyp, seinen spezifischen Lebensgewohnheiten, seiner psychischen Verfassung und seinem sozialen und familiĂ€ren Umfeld. Noch komplizierter wird es, weil die Medizin mittlerweile viele verschiedene Arten von Asthma kennt, je nachdem, welcher molekularbiologische Mechanismus hinter der chronischen EntzĂŒndung der Bronchialschleimhaut liegt. Das alles zu berĂŒcksichtigen und die immer grĂ¶ĂŸere Palette an therapeutischen Möglichkeiten möglichst prĂ€zise, also individuell, auf einen ganz bestimmten Menschen abgestimmt einzusetzen, ist keine kleine kognitive Leistung und möglicherweise ebenfalls ein Fall fĂŒr die digitalen Superdocs der Zukunft.
Diese können jetzt schon gigantische Datenmengen in kĂŒrzester Zeit durchsuchen. Sie sind dabei in gewisser Hinsicht immer auf dem letzten Stand des Wissens, ja mehr noch, indem sie selbst Daten produzieren, tragen sie laufend zur Erweiterung und Adaptierung dieses Wissens bei. Dieser sich selbst fĂŒtternde Kreislauf von der Forschung zur Praxis und von der Praxis wieder in die Forschung bedeutet eine Änderung der bisher gĂŒltigen Spielregeln, was die Produktion und Verteilung des medizinischen Wissens innerhalb der Ärzteschaft betrifft.
Bisher hat das in etwa so ausgesehen: Die in der klinischen Forschung, das heißt, bei Patienten gewonnenen Erkenntnisse werden von den Experten in den jeweiligen Fachgebieten, also von Rheumatologen, LungenfachĂ€rzten, Diabetologen und so weiter, analysiert, bewertet, diskutiert und schließlich in Leitlinien oder als Empfehlungen fĂŒr die Praxis veröffentlicht. Den praktisch tĂ€tigen Ärzten werden die Forschungsergebnisse und die daraus resultierenden Empfehlungen im Rahmen ihrer FortbildungsaktivitĂ€ten in Form von VortrĂ€gen, Artikeln oder digitalen Lernprogrammen vermittelt. FĂŒr die Ärzte bedeutet das einen ziemlichen zeitlichen Aufwand, der natĂŒrlich zusĂ€tzlich zu ihrer eigentlichen Arbeit anfĂ€llt. Fortbildung in einem definierten Umfang und mit klar regulierten Rahmenbedingungen ist mittlerweile in den meisten LĂ€ndern, so auch in Österreich, verpflichtend fĂŒr die AusĂŒbung des Arztberufes. Seit ein paar Jahren reicht es auch nicht mehr, wenn ein Arzt die BestĂ€tigungen ĂŒber die besuchten Veranstaltungen und absolvierten e-Learnings in seiner Schreibtischlade aufbewahrt, er muss aktiv nachweisen, dass er die vorgeschriebene Mindestanzahl an Fortbildungspunkten erworben hat. Insgesamt sind das 250 Punkte, die ein österreichischer Arzt in einem Zeitraum von fĂŒnf Jahren erwerben muss. Wenn man bedenkt, dass es fĂŒr einen Vortrag in der LĂ€nge von 45 Minuten einen Fortbildungspunkt gibt, wird klar, dass sich ein typisches Wochenende im Leben eines Arztes eher nicht am Golfplatz, sondern in diversen VortragssĂ€len oder vor dem Computer abspielt.
Die potenziellen Cyberdocs der Zukunft können im Prinzip ĂŒber das gesamte Wissen der Medizin verfĂŒgen, und zwar in dem Moment, in dem dieses Wissen entsteht. Quasi eine hundertprozentige Frischegarantie fĂŒr die eingesetzten Methoden, die kein auch noch so fortbildungswilliger Arzt aus Fleisch und Blut jemals bieten kann. Die Sache hat allerdings einen gar nicht so kleinen Haken: Was die intelligenten Arztmaschinen empfangen, ist zunĂ€chst kein Wissen, sondern es handelt sich dabei um reine Daten. Bevor wir ihnen also den virtuellen Arztkittel anziehen, mĂŒssen wir zwei Fragen klĂ€ren:
1. Können Softwareprogramme aus Daten Empfehlungen in Form von Wissen ableiten?
2. MĂŒssen wir fĂŒr die erfolgreiche Ableitung von therapeutischen Maßnahmen aus den nackten Daten ĂŒberhaupt den Umweg ĂŒber Wissen im eigentlichen Sinn nehmen?
Wir werden uns diesen beiden Fragen etwas spĂ€ter noch ausfĂŒhrlich widmen.
Im Status quo ist Fortbildung jedenfalls die unverzichtbare BrĂŒcke von der Wissenschaft zur Praxis. Der umgekehrte Weg, also die Produktion von Wissen aus der Praxis, lĂ€uft derzeit ebenfalls indirekt ĂŒber eine Zwischenstation, und zwar ĂŒber klinisch-experimentelle Studien. In diesen werden die wirklichen LebensumstĂ€nde der Patienten in einem standardisierten Umfeld, sozusagen »im Labor«, nachgestellt. Das Problem liegt auf der Hand: Die Ergebnisse dieser Studien sind zwar weitgehend frei von statistischen VerfĂ€lschungen, sogenannten Bias, aber sie bilden eben nur zum Teil die »wirkliche Welt« ab. Wenn wir Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes einmal beiseitelegen, dann stehen den intelligenten Maschinendocs potenziell gigantische Datenmengen aus der Cloud zur VerfĂŒgung. Diese Daten kommen von den elektronischen Gesundheits- beziehungsweise Krankenakten der Patienten, die wiederum von den diversen Biosensoren, Wearables, Labor- und Röntgenbefunden sowie Ă€rztlichen Dokumentationen gespeist werden. All das kann schließlich auf der Basis von bestimmten Fragestellungen analysiert werden, wie zum Beispiel: »Wie tief sollen wir den Blutdruck bei einem 45-jĂ€hrigen, ĂŒbergewichtigen mĂ€nnlichen Diabetiker, der tĂ€glich 20 Zigaretten raucht und Meerschweinchen zĂŒchtet, senken, damit wir sein Risiko fĂŒr Herzinfarkte und SchlaganfĂ€lle reduzieren?« In einem geschlossenen, vollautomatisierten Kreislauf wĂŒrde unser AI-Doktor die Antwort auf diese Frage direkt umsetzen, indem er seinem Patienten eine adaptierte Dosis seines Blutdruckmittels verschreibt oder im digitalen MessgerĂ€t einen neuen Schwellenwert fĂŒr den Hochdruck-Alarm einstellt. Willkommen in der schönen neuen Gesundheitswelt des IoT, des Internet of Things, das in unserem Fall als »Internet of Medical Things« bezeichnet wird.
Die AnhĂ€nger der kompletten Durchdigitalisierung der Medizin erhoffen sich eine Verbesserung der BehandlungsqualitĂ€t, zum einen durch eine prĂ€zisere Anpassung der gewĂ€hlten Therapie an die individuellen Krankheitsvarianten der jeweiligen Patienten, zum anderen durch laufende Aktualisierung der gewĂ€hlten Maßnahmen anhand von Echtzeitdaten der Patienten, die in sogenannten Real World Studies gewonnen werden. Ich sehe aber noch einen weiteren potenziellen Vorteil von Artificial Intelligence fĂŒr die BehandlungsqualitĂ€t, und der betrifft die Zusammenarbeit von FachĂ€rzten verschiedener Disziplinen.
In der Behandlung von Krebserkrankungen hat sich seit vielen Jahren ein verbindlicher Standard solch einer interdisziplinĂ€ren Zusammenarbeit etabliert. Es sieht vor, dass jedem Krebspatient ein sogenannter Tumorboard vorgestellt wird, das sich aus Vertretern der verschiedenen in der Krebstherapie relevanten Facharztgruppen zusammensetzt: einem auf die medikamentöse Krebstherapie spezialisierten Onkologen, einem Strahlentherapeuten, einem Chirurgen, einem Radiologen fĂŒr die Interpretation der Bildbefunde, einem Pathologen fĂŒr die Beurteilung des entnommenen Gewebes sowie einem fĂŒr das betroffene Organsystem zustĂ€ndigen Facharzt. GegenĂŒber der Zeit vor den Tumorboards bedeutet dies einen gewaltigen Fortschritt. FrĂŒher hing die Entscheidung, welche Therapie ein Patient bekommt, nicht selten davon ab, bei welchem Arzt die Krebserkrankung zunĂ€chst diagnostiziert wurde. Es war ein bisschen so wie in dem Sketch des großen Kabarettisten Helmut Qualtinger aus den 1970er-Jahren, bei dem Vertreter verschiedener Berufsgruppen – alle von Qualtinger dargestellt – von einem Journalisten zur Zukunft Österreichs befragt wurden. Der Mittelschullehrer sieht die Zukunft natĂŒrlich in der österreichischen Mittelschule, der deutsche Großunternehmer sieht sie eng mit der Bundesrepublik verknĂŒpft, und fĂŒr den HĂŒttenwirt aus Tirol liegt sie natĂŒrlich in den Bergen. Analog dazu hat mir ein Strahlentherapeut einmal versichert, dass weder Operation noch Chemotherapie den Patienten heile, sondern ausschließlich die Bestrahlung. Solch eine Konkurrenz zwischen den verschiedenen Disziplinen ist natĂŒrlich im Kampf auf Leben und Tod, dem sich jeder Krebspatient ausgesetzt sieht, ein mehr als unnötiges StörgerĂ€usch. Mittlerweile hat sich bei den onkologisch tĂ€tigen Ärzten ein patientenorientierter Zugang durchgesetzt und in Form der Tumorboards auch im klinischen Alltag etabliert. Nicht die PrĂ€ferenz des Behandlers, sondern die Evidenz der Daten in AbwĂ€gung mit dem persönlichen Interesse des Patienten soll den Ausschlag fĂŒr die Wahl der eingesetzten Behandlung geben.
Ein Patient nimmt es eigentlich als selbstverstĂ€ndlich an, dass die in seine Versorgung involvierten Ärzte, Therapeuten und Pfleger sich untereinander absprechen und ihre Aktionen koordinieren, dass einmal erhobene Befunde ausgetauscht werden und die optimale Behandlung diskutiert wird. Leider geschieht das bis dato aber alles andere als standardmĂ€ĂŸig – schließlich gibt es weder ein Stoffwechselboard noch ein Psychoboard noch ein Schmerzboard. Der Hausarzt als Gesundheitsmanager ist von dieser Rolle ĂŒberfordert und hat auch keine wirklichen Anreize in Form entsprechender Honorarmodelle. Hier könnten die intelligenten Maschinen in die Bresche springen und die therapeutische Zusammenarbeit koordinieren, die Akteure mit den jeweils entscheidungsrelevanten Informationen versorgen und gleichzeitig als leidenschaftslose Instanzen dafĂŒr sorgen, dass nicht das Angebot die Versorgung steuert, sondern der nach dem letzten Stand des Wissens zu befriedigende, objektive Bedarf des Patienten.

Effizientere Versorgung – weniger Pyjam...

Table des matiĂšres