»Erstmals in der Geschichte der Menschheit wird Erfolg weniger abhÀngen von Fortschritten im Technischen als von Fortschritten im Menschlichen.«
Leo Nefiodow, Vordenker der Informationsgesellschaft
Wenn die Rahmenbedingungen unserer Existenz sich immer schneller Ă€ndern und die altgedienten Lebensmodelle und Weltanschauungen keinen Halt und keine Orientierung mehr bieten, ist es fĂŒr den Einzelnen umso wichtiger, die volle Kontrolle ĂŒber sein Leben zu ĂŒbernehmen. Doch bevor wir das tun können, mĂŒssen wir zunĂ€chst einmal genau verstehen, was wir da ĂŒberhaupt kontrollieren sollen â uns selbst und unsere RealitĂ€t.
Was unsere RealitÀt beeinflusst
Wie du dich jeden Tag fĂŒhlst, was du fĂŒr richtig und was fĂŒr falsch hĂ€ltst, welchen Prinzipien du folgst und deine Weltanschauung bestimmen deine erlebte RealitĂ€t. Jeder Mensch erlebt seine Umwelt durch einen individuellen Filter, der ihm dabei hilft, die KomplexitĂ€t seiner Umwelt besser zu bewĂ€ltigen. Sein Handeln wird dabei im Wesentlichen durch Erlebnisse und Erfahrungen seiner Vergangenheit bestimmt, die im Unterbewusstsein abgespeichert sind. Unsere Erziehung, gemachte Erfahrungen, gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen, das durchlaufene Bildungssystem und die vorherrschende Wirtschaftsordnung spielen dabei eine entscheidende Rolle und definieren das Filtersystem.
Da es keine zwei Lebewesen auf der Welt gibt, die in ihrem Leben exakt die gleichen Erfahrungen machen, gibt es nicht die eine RealitÀt, sondern mindestens so viele RealitÀten, wie es Lebewesen auf dieser Erde gibt.
Das ist eine erste und entscheidende Erkenntnis, denn sie beinhaltet, dass jeder Mensch seine eigene RealitĂ€t durch gemachte Erfahrungen und den Umgang damit beeinflussen kann. Welche Erfahrungen wir machen, hĂ€ngt wiederum stark davon ab, in welchem Umfeld wir uns bewegen. Genau gesagt von der Wahrnehmung unserer Umwelt und den daraus abgeleiteten Reaktionen. Letztlich machen wir uns also unsere eigene subjektive RealitĂ€t, und eine objektive RealitĂ€t gibt es demnach gar nicht. Dabei stellt unser Gehirn mit seinem impliziten Wissen das Filtersystem dar. Wir können die Art und Weise, wie wir die RealitĂ€t sehen, kontrollieren oder zumindest beeinflussen, wenn wir die EinflĂŒsse kennen und es uns gelingt, uns zu distanzieren, achtsam zu beobachten, woher unsere Wahrnehmung kommt. Wir mĂŒssen die Trigger erkennen und versuchen, sie zu ĂŒberwinden.
Soziokulturelle Einflussfaktoren auf unsere RealitÀt
Ganz klar: In welchem sozialen und kulturellen Umfeld wir aufwachsen und uns bewegen, hat Einfluss auf die Erfahrungen, die wir machen, wie wir uns entwickeln und wie unsere RealitĂ€t aussieht. Zu den soziokulturellen Einflussfaktoren gehören zum Beispiel die Religion und die Staatsform. Sind prĂ€gend fĂŒr das Rechtsempfinden. In der westlichen Welt sind das beispielsweise die Zehn Gebote, der Gleichheitsgrundsatz und Menschenrechte. Sie bestimmen unser grundlegendes Wertesystem. Innerhalb unseres Kulturkreises unterscheiden wir uns auĂerdem nach Volks- und Gruppenzugehörigkeit, nach der sozialen Schicht und auch die Bildung der Eltern und ihr Beruf haben Auswirkungen. Eltern und Familie vermitteln dem Kind Werte, Einstellungen, Gewohnheiten und auch Verhaltensmuster, die zunĂ€chst kritiklos ĂŒbernommen werden. Die Familie ist fraglos in besonderem MaĂe prĂ€gend, denn dort erfĂ€hrt es auch, wie zwischenmenschliche Beziehungen funktionieren. Es erfĂ€hrt im besten Fall emotionale Zuwendung und erhĂ€lt die Möglichkeit, sich zu entwickeln, macht Erfahrungen im Umgang mit anderen Menschen. SpĂ€ter wird das angereichert durch Schule, Freundeskreis und Beruf. Die globale Welt lĂ€sst sich heute ebenfalls nicht mehr aussperren. Ăber digitale Medien findet sie den Weg zu jedem.
Das Zusammenspiel aller EinflĂŒsse, denen wir ausgesetzt sind, wirkt sich auf die Ausbildung der Hirnstruktur und damit auf die Persönlichkeitsentwicklung aus. Deshalb ist es so unglaublich wichtig, dass Kinder eine sichere Bindung zu ihren Eltern haben und wissen, dass sie wichtig sind. Kinder sind Entdecker. Jede neue Entdeckung, jede neue FĂ€higkeit und jede neue Erkenntnis lösen in ihrem Gehirn wahre BegeisterungsstĂŒrme aus. Wird ihnen das verwehrt, weil sich zum Beispiel niemand mit ihnen befasst oder sie keine Möglichkeiten zum Spiel haben, bleiben sie in ihrer Entwicklung zurĂŒck. Das hat Auswirkungen auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns. Nicht von ungefĂ€hr haben Kinder, die geliebt und gewĂŒrdigt werden, als Erwachsene ein stabileres Selbstbewusstsein als diejenigen, denen diese Erfahrung verwehrt bleibt. Die Zugehörigkeit zu einer sozial niedrigeren Schicht kann dazu fĂŒhren, dass das Kind seine intellektuelle LeistungsfĂ€higkeit nicht voll entfalten kann.
Besonders tiefgehende oder wiederholte Erfahrungen, die wir im Kindesalter machen, fĂŒhren zu inneren Einstellungen, Haltungen, Ăberzeugungen, festen Vorstellungen â sie werden zu einem »Mindset«. Dieses ist bestimmend fĂŒr das, was wir gut finden und was wir ablehnen. Sie bestimmen unser Denken, FĂŒhlen und Handeln. Sie bestimmen, ob wir fremden Menschen trauen, welche politischen Ansichten wir gut finden, ob wir neugierig sind oder lieber bei Bekanntem bleiben, unsere Arbeitseinstellung, welche Freunde wir haben und so weiter. Das heiĂt in der Konsequenz, dass unsere Ăberzeugungen eigentlich nicht richtig oder falsch sind, sondern einfach die Summe unserer Erfahrungen. WĂ€ren wir in einer anderen Familie aufgewachsen oder in einem anderen Land mit einer anderen Kultur, hĂ€tten wir andere Erfahrungen gemacht und unser Mindset, unsere inneren Ăberzeugungen und Werte wĂ€ren ganz andere.
NatĂŒrlich können wir unser Mindset verĂ€ndern, aber das ist harte Arbeit. Denn wir schleppen auch noch den Ballast der Vergangenheit mit uns herum, den der Biologe Gerald HĂŒther als »transgenerationale Weitergabe von Erfahrungen« bezeichnet. Das Mindset einer Gesellschaft als Summe unserer Einstellungen und Werte beeinflusst also die Art und Weise, wie wir als Gesellschaft mit VerĂ€nderung umgehen. Vor allem, wenn neue Erkenntnisse und technologischer Fortschritt nicht mehr zu den alten tradierten Weltbildern passen, werden wir unsicher und Ă€ngstlich. Wir mĂŒssen die alten Vorstellungen und Ideen ĂŒberdenken und erneuern, neue Orientierung finden, uns neue Ziele setzen und neue Probleme lösen. Sind diese Probleme zu zahlreich und zu unterschiedlich, wĂ€chst die Gefahr der Auflösung der sozialen Strukturen.
Der amerikanische Traum wirkt
Am Beispiel von Alex und Max kann man gut sehen, welchen Einfluss unterschiedliche soziokulturelle Erfahrungen auf den Menschen haben können. Die BrĂŒder sind in der gleichen Familie und im gleichen Umfeld groĂ geworden. Beide haben studiert und doch entschied sich Alex fĂŒr einen Job als Angestellter, wĂ€hrend Max ein Unternehmen grĂŒndete. Durch Maxâ Studium in den USA wurden die gemeinsame PrĂ€gung und GlaubenssĂ€tze bei Max verĂ€ndert. In den USA ist die Haltung zu Unternehmertum eine andere, positivere als in Deutschland, Unternehmertum wird gefördert â Stichwort: amerikanischer Traum. Alex hingegen bekam im Studium weder unternehmerische Kompetenz vermittelt noch hatte er entsprechende Vorbilder.
KomplexitÀt und Intuition
Unsere RealitĂ€t wird immer stĂ€rker durch KomplexitĂ€t geprĂ€gt â tatsĂ€chliche und angenommene. Die KomplexitĂ€t in allen Lebensbereichen nimmt zu â zumindest lesen wir das ĂŒberall. Ich wĂŒrde behaupten, es stimmt, denn dank Digitalisierung und Globalisierung hĂ€ngt alles irgendwie zusammen. Aber was ist eigentlich KomplexitĂ€t und wie beeinflusst sie unsere RealitĂ€t?
Es gibt verschiedene Definitionen, aber alle laufen darauf hinaus, dass komplexe Systeme nicht eindeutig beschrieben werden können. Selbst wenn man alle Informationen ĂŒber jede Einzelkomponente des Systems und ihre Wechselwirkungen hat, ist das nicht möglich. In komplexen Systemen kommt man mit »wenn-dann« nicht weiter. Die Vorhersehbarkeit von Ursache und Wirkung geht verloren. Das kann man gut beobachten in Wirtschaft und Arbeitswelt: Lieferanten, Kunden und Wettbewerber agieren in einer Umgebung, die stĂ€ndiger VerĂ€nderung unterworfen ist. Start-ups tauchen im Markt auf und plötzlich verĂ€ndern sich die Wechselwirkungen zwischen den Akteuren. Neue Mitarbeitergenerationen mit verĂ€nderten Werten und Zielen drĂ€ngen in den Arbeitsmarkt. Unvorhersehbare Ereignisse und Entwicklungen verĂ€ndern die MĂ€rkte und deren Rahmenbedingungen. FĂŒhrungskrĂ€fte mĂŒssen Entscheidungen unter gröĂter Unsicherheit treffen.
Es gibt mehrere Strategien, um mit KomplexitĂ€t umzugehen. Am hĂ€ufigsten blenden wir KomplexitĂ€t einfach aus. So können wir bei unseren alten Denkmustern bleiben. Manchmal versuchen wir, KomplexitĂ€t durch rationales Durchdenken zu beherrschen, doch damit kommen wir auch nicht weiter. Ein weiterer Ausweg aus dem Dilemma, den wir gerne wĂ€hlen, folgt dem Ansatz »simplify your life«, der aber auch nicht von Erfolg gekrönt sein wird. Er bedeutet nĂ€mlich, man greift sich einen Aspekt des Problems heraus und konzentriert sich darauf. Beispielsweise ist die FĂŒlle an Produktinformationen im Internet mittlerweile viel zu groĂ, als dass wir sie alle in die Suche nach dem besten Produkt einbeziehen könnten, also konzentrieren wir uns auf einen Aspekt, oft den Preis. Dann können wir immerhin sagen: Den besten Preis finde ich immer heraus. Aber mach dir nichts vor: Ein kompliziertes System kann man in HĂ€ppchen unterteilen, ein komplexes System wird dadurch zerstört.
Wenn wir mit KomplexitĂ€t zurechtkommen wollen, brauchen wir Neugier, AgilitĂ€t und Mut, mĂŒssen andere Meinungen zulassen und einfordern sowie uns auf neue LösungsansĂ€tze einlassen. Wir brauchen Menschen, die mehrere Optionen zulassen, bereit sind, nicht zum Ziel fĂŒhrende Lösungen wieder fallen zu lassen, um Neues zu probieren, Feedbackschleifen zu drehen und Widerspruch fĂŒr sich zu nutzen. Scheitern ist erlaubt, denn Scheitern bedeutet Weiterentwicklung.
»Die Intuition ist die FÀhigkeit des Gehirns, komplexe Muster zu bilden jenseits meines Verstehens.«
Prof. Dr. Peter Kruse, deutscher Psychologe und Organisationspsychologe
Wir mĂŒssen lernen, unsere Intuition als Ressource im Umgang mit KomplexitĂ€t zu betrachten. Intuition ist ein »BauchgefĂŒhl«, das auf unbewusst gesammelten Informationen und Erfahrungen aufbaut. Sie ist unsere beste Chance, mit KomplexitĂ€t zurechtzukommen, allerdings nur, wenn unsere Intuition up to date ist. Schauen wir uns FĂŒhrungskrĂ€fte an, die auf Intuition setzen und Entscheidungen aus dem Bauch heraus treffen: Das kann super klappen, aber nur, wenn sich die Rahmenbedingungen, unter denen die Intuition entstanden ist, nicht geĂ€ndert haben. Haben sich die Bedingungen geĂ€ndert, ist sie ĂŒberholt. Deshalb sollte man immer ĂŒberprĂŒfen, in welchem Rahmen man die Intuition »gelernt« hat. Ist sie von heute, gestern, vorgestern oder noch Ă€lter? Die Intuition des Unternehmers Max Grundig war sicher nicht up to date, als er sich statt fĂŒr das Videoformat VHS fĂŒr Betamax entschied. Deshalb spielen Vernetzung und der Austausch mit anderen eine so groĂe Rolle, wenn es um Entscheidungen unter Unsicherheit geht, denn die Intuition vieler ist nach jĂŒngsten Erkenntnissen zuverlĂ€ssiger als die eines Einzelnen.
»Bleiben Sie wach, vernetzen Sie sich mit allem, was da ist. Bleiben Sie der Intuition treu, aber der kollektiven Intuition. Sie gibt Sicherheit.«
Prof. Dr. Peter Kruse, deutscher Psychologe und Organisationspsychologe
Wenn du denkst, du denkst
Durch ihren Verstand sind Menschen in der Lage, analytisch zu denken, ihre Umwelt bewusst wahrzunehmen und die damit zusammenhĂ€ngenden VorgĂ€nge zu beurteilen, einzuordnen und rationale Entscheidungen zu treffen â zumindest stellen wir uns das so vor. Unser Verstand bringt uns jedoch nicht nur Vorteile. Die FĂ€higkeit zu denken verleitet unseren Verstand leider oftmals auch zu destruktiven, negativen Gedanken und SelbstgesprĂ€chen, die wiederum negative Emotionen in uns auslösen können. Negatives Denken ist eine der Hauptursachen fĂŒr Misserfolg, Ăngste und ungenutzte Potenziale. Wer seine Gedanken kontrolliert, kontrolliert also sein Leben?
Wenn es nur so einfach wÀre!
Sag mir, wie du Entscheidungen triffst. Denkst du das Problem von Anfang an durch, wendest die Dinge hin und her, betrachtest das Entscheidungsproblem von allen Seiten und triffst dann eine sehr durchdachte, emotionslose Entscheidung? Glaub ich dir nicht. Viel wahrscheinlicher ist es, dass du die Entscheidung aus dem Bauch heraus triffst und â wenn du dich fĂŒr einen rational denkenden Menschen hĂ€ltst â sie nachtrĂ€glich mit Argumenten zu begrĂŒnden versuchst. Ein Manager entschlieĂt sich nicht zum Kauf eines Audi, weil der BMW etwas mehr kostet, sondern weil ihm der Audi besser gefĂ€llt. Wird er natĂŒrlich abstreiten. Muss man aber nicht glauben.
Wie wir schon wissen, nimmt unser Gehirn gerne den einfachen Weg, der am wenigsten Energie kostet. So schlieĂt es beispielsweise von einem hervorstechenden Merkmal einer Person auf weitere Persönlichkeitsmerkmale. Man nennt das den »Halo-Effekt«. Wir ersetzen Fragen, die wir nicht ohne Weiteres beantworten können, durch eine Frage, von der wir annehmen, dass wir sie beantworten können. Aus der Frage »Ist dieser Mann aufgrund seiner Kompetenzen und Erfahrung geeignet, dieses Team zu fĂŒhren?« wird dann »Sieht dieser Mann so aus, als ob er dieses Team fĂŒhren könnte?«. Das heiĂt, unsere Antwort beziehungsweise unsere Entscheidung ist subjektiv, hĂ€ngt von den Erfahrungen ab, die wir mit Ă€hnlich aussehenden Menschen in der Vergangenheit gemacht haben. WĂŒrden wir natĂŒrlich nicht zugeben. Ein weiteres Indiz fĂŒr unsere nicht rationale Sichtweise ist zum Beispiel, dass wir den Tatsachen, die wir eigentlich aus zuverlĂ€ssigen Quellen wie Statistiken wissen sollten, weniger Bedeutung einrĂ€umen als den Erkenntnissen, die wir aus unzuverlĂ€ssigen Quellen haben. Beispielsweise ist statistisch nachweisbar, dass mehr Menschen an Herzinfarkten sterben als durch AutounfĂ€lle, aber die mei...