Kurzgeschichte des Aphorismus
Subjektiver LektĂŒrebericht
Aphorismen sind kurze geistreiche SĂ€tze, prĂ€gnant konzis formulierte Bonmots, isolierbar vieldeutige, s(pr)achpointierte Mikroprosa zwischen Bild und Begriff, GefĂŒhl und Gedanke, Metapher und Metaphysik. Sie sind oft heruntergekommen zu seichten GesinnungssprĂŒchen und windigen Wortspielwitzeleien und sollten doch rehabilitiert werden als streng philosophischer Gehalt in literarischer Gestalt. Aber Aphorismen, lĂ€nger als drei SĂ€tze, bleiben als âAufzeichnungenâ oder âEssaysâ hier unberĂŒcksichtigt.
Was Traditionswert des klassischen Altertums genannt wird, sind wohl zu einem Gutteil lateinischgriechische Sentenzensammlungen (Gnomologien).
Hippokrates wollte mit seinen empiristischen Heilregeln kurieren, Heraklit mit dialektischem RĂ€tselspruch den gesunden Menschenverstand verwirren. âDas Leben ist eine Komödie fĂŒr Denkende und eine Tragödie fĂŒr alle, die fĂŒhlen.â (Hippokrates)
Tacitus und Seneca schrieben zwar gar keine Aphorismen, förderten aber das konzise Stilideal.
Fr. Bacons âNovum Organum" rechtfertigte theoretisch vorweg, was B. Gracians âHandorakel" aphoristisch praktizierte, als er empiristische âtraditio per aphorismosâ gegen alle scholastische âtraditio methodicaâ verteidigte.
âManche mögen lieber die Ersten in der zweiten Klasse als die Zweiten in der ersten sein.â âViele verlieren ihren Verstand deshalb nicht, weil sie keinen haben.â âDas Gute, wenn kurz, ist doppelt gut; und selbst das Schlimme, wenn wenig, ist nicht so schlimm.â âEinigen macht ihr Posten Ehre, Andere ihm.â (Baltasar Gracian)
Der Antijesuit B. Pascal schrieb Aphorismen, um Nichtchristen zu Christen zu machen, indem er die Religion gegen jeden cartesianischen Rationalismus rational verteidigte. (Der Bremer Protestant Rudolf A. Schröder schrieb fĂŒr Christen und hörte auf, welche zu schreiben, als er begann, ein Christ zu werden, wĂ€hrend Chestertons Aphorismen immer geistreicher wurden, je katholischer er selbst wurde.)
âDie Menschen sind so notwendig Toren, dass es auf eine andere Art töricht wĂ€re, kein Tor zu sein.â âNichts ist der Vernunft so angemessen wie dies Nichtanerkennen der Vernunft.â âDurch den Raum erfasst mich das Weltall und verschlingt mich wie einen Punkt, durch das Denken erfasse ich es.â (B. Pascal)
Der Herzog Larochefoucauld, Frondeur gegen den Hofadel von Versailles, schrieb wenig genug, um nie Ăberdruss zu bereiten. HĂ€tte er mehr geschrieben, hĂ€tte sein Thema, die Eigenliebe unter allen Tugendmasken, dafĂŒr nicht ausgereicht. Die Französischen Moralisten haben oft mehr Sach- als Sprachpointen, der Sprachwitz steht im Dienst der satirischen Reduktionspsychologie : Dies behauptet es zu sein, doch das ist es wirklich.
âHeuchelei ist eine Huldigung des Lasters an die Tugend.â âLieber sagt man Schlechtes von sich selbst als gar nichts.â âOft tut man Gutes, um ungestraft Böses tun zu können.â (La Rochefoucauld)
Der krĂ€nkelnde und jungverstorbene Offizier Vauvenargues verfasste weniger Aphorismen ĂŒber das Laster in allen Tugenden als umgekehrt Euphorismen ĂŒber die Tugend in den Lastern, und verteidigte nackte GefĂŒhle gegen bloĂe Gedanken. Er stellte Affekt ĂŒber Intellekt und Herz ĂŒber Kopf.
âWir entdecken in uns selbst, was andere uns verbergen, und erkennen in anderen, was wir vor uns selber verbergen.â âGroĂe Gedanken kommen von Herzen.â âAphorismen sind die EinfĂ€lle der Philosophen.â âHochmut tröstet die Schwachen.â âWir denken nicht so gut, wie wir handeln.â (Vauvenargues, Luc de Clapier)
J. de La BruyĂšre beschrieb die âCharaktereâ in Aphorismen und schrieb Aphorismen als Typen-PortrĂ€ts in der Nachfolge Theophrasts. Der Konservative ĂŒbersah dabei nicht das Elend der Bauern.
âMan will das ganze GlĂŒck des Geliebten ausmachen - ist das unmöglich, sein ganzes UnglĂŒck.â âDer Weise meidet zuweilen die Menschen, aus Furcht, sich zu langweilen.â âMan muss schon jeglichen Geistes bar sein, wenn Liebe, Bosheit und Not ihn nicht wecken.â (Jean de La BruyĂšre)
âKrieg den PalĂ€sten, Friede den HĂŒtten!â Der uneheliche Chamfort wurde ganz zu Recht bewundert von so unterschiedlichen Geistern wie Lichtenberg, Schlegel, Schopenhauer und Nietzsche. In der Revolution biss er die adlige Hand, die ihn gefĂŒttert hatte, und die BĂŒrger bedankten sich, indem sie ihn in den Selbstmord trieben. Hatte er nur die Ressentiments seiner vom Adel enttĂ€uschten Mutter aphoristisch vollstreckt? Larochefoucauld verteidigte die schlechte Gesellschaft gegen die grausame Natur, Chamfort aber die menschliche und die grĂŒne Natur gegen die gute Gesellschaft, sah in uns aber zugleich weniger Naturwesen als Sozialprodukte.
âDer Adel, sagen die Adligen, sei eine Zwischenstufe zwischen König und Volk, Ja, so wie der Jagdhund eine Zwischenstufe ist zwischen dem JĂ€ger und dem Hasen.â âMan glaubt nicht, wie geistreich man sein muss, um niemals lĂ€cherlich zu werden.â âDer Philosoph, der seine Leidenschaften ausrotten will, gleicht dem Chemiker, der sein Feuer löscht.â âDas Geld ist sehr schĂ€tzenswert, wenn man es verachtet.â (Nicolas Chamfort)
Montesquieu hatte seine republikanische Gewaltenteilung aus der âGermania" des Tacitus. Aphorismen schrieb er, ohne es zu wollen, als er nachgelassene âPensĂ©esâ ĂŒber den âGeist der Gesetze" schrieb wie Canetti ĂŒber âMasse und Macht".
âDer Krieg des Spartacus war der legitimste, der je unternommen wurde.â âWie ich in meinem UnglĂŒck auf die Götter vertraute, fĂŒrchte ich sie in meinem GlĂŒck.â âDie freien Nationen sind zivilisiert, die in Sklaverei lebenden kultiviert.â (Montesquieu)
Jouberts reizvolle Aphorismen der ,Carnets' sind oft gar keine, sondern anregende Aperçus ĂŒber les sciences et les beaux arts : âSternbilder". Den konzisen stenographoristischen Stil hat er ausdrĂŒcklich gerechtfertigt als âWurfgeschoĂ des Geistesâ.
âDie Welt sehen heiĂt, ĂŒber Richter zu richten.â âDer Geistreiche ist der Wahrheit sehr nahe.â âGott will, dass wir selbst seine Feinde lieben.â âLehren heiĂt zweimal lernen.â (Joseph Joubert)
ThĂ©odore Jouffroy ist mit seinem âGrĂŒnen Heftâ leider so gut wie nicht mehr bekannt.
âMan mĂŒsste Truppen an die Grenze des Todes verlegen, wenn die Unsterblichkeit bewiesen wĂ€re, sonst wĂŒrde die Armee der Lebenden desertieren.â âDie Sinne nehmen die Welt beim Schwanz, die Vernunft beim Kopf, die Mitte entgleitet immer.â âTrösten heiĂt, an den Egoismus erinnern.â
Der RevolutionsflĂŒchtling Rivarol ist trotz Ernst JĂŒngers Lob lesenswert bis heute.
âDie Liebe ist ein Raub der Natur an der Gesellschaft.â
âWir leben in einer Zeit, wo Unscheinbarkeit mehr schĂŒtzt als das Gesetz und sicherer macht als Unschuld.â
âEin Buch, das man stĂŒtzt, ist ein Buch, das fĂ€llt.â
Die frĂŒhdeutsche Larochefoucauld-Rezeption bei Knigge, Lavater und Ehrmann z.B. ist heute wohl nur noch literaturwissenschaftlich interessant.
Lichtenbergs posthume SudelbĂŒcher enthalten etwa 2000 gleichzeitig literarische und wissenschaftliche Aphorismen, die oft Satiren sind. Der Biedermeier-Forscher Fritz Sengle schrieb im Vorwort zu seiner eher sehr schmalen Lichtenberg-Auswahl: âDie Edelsteine verbergen sich auch hier in groĂen Massen geringeren Gesteins. Eine noch schĂ€rfere Auswahl wĂ€re denkbar.â (Stuttgart 1980) Das gilt Ă€hnlich fĂŒr die meisten ĂŒbrigen Aphoristiker, deren Volltrefferquote weit entfernt von einhundert Prozent liegt.
âWenn die Menschen plötzlich tugendhaft wĂŒrden, so mĂŒssten viele tausende verhungern.â âWir, der Schwanz der Welt, wissen nicht, was der Kopf vorhat.â âEs lĂ€sst sich ohne sonderlich viel Witz so schreiben, dass ein anderer sehr viel haben muss, es zu verstehen.â âZeit urbar machen.â âNeue IrrtĂŒmer erfinden.â (G. Chr. Lichtenberg)
J. G. Seume schrieb die politisch progressivste Aphoristik seiner Zeit. Dass diese politische Brisanz republikanischer Privilegienschelte zuweilen ĂŒber eine mangelnde sprachliche Konzision hinwegtĂ€uscht, verbindet ihn mit dem linken Jochmann.
âWo keine Sklaven sind, kann kein Tyrann entstehen.â âWer nichts fĂŒrchtet, kann leicht ein Bösewicht werden, aber wer zu viel fĂŒrchtet, wird sicher ein Sklave.â âDie Gesellschaft gesteht uns oft zu viel zu, das tut sie aber fĂŒr das Zuviel, das sie uns genommen hat.â (J. G. Seume)
Was gut ist an Goethes âMaximen und Reflexionenâ, stammt oft nicht von ihm, und was von ihm stammt, ist zu oft unerwartet banal.
âDie christliche Religion ist eine intentionierte politische Religion, die, verfehlt, nachher moralisch geworden ist.â âInnerhalb einer Epoche gibt es keinen Standpunkt, eine Epoche zu betrachten.â âMan weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknĂŒpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.â âAlles wahre Aperçu kommt aus einer Folge und bringt Folge. Es ist Mittelglied einer groĂen aufsteigenden Kette.â (J. W. Goethe)
Der âDemokritos" von Karl Julius Weber ist oft ein recht spitzes aphoristisches Zitatfeuerwerk.
Fr. Schlegels romantische Ironie ist Metaphysik der Metapher und Metapher fĂŒr Metaphysik. Bei den Romantikern haben die metaphoristischen SelbstbezĂŒglichkeiten und unendlich reflektierten Spiegelkabinette hĂ€ufig zu groĂe TextlĂ€nge, die die Pointe zerredet. Novalis schrieb âBlĂŒthenstaubâ:
âWer nicht sucht, wird bald nicht mehr gesucht.â
âWir suchen ĂŒberall das Unbedingte und finden immer nur Dinge.â âJeder Satz muss einen selbstĂ€ndigen Charakter haben - ein selbstĂ€ndiges Individuum, HĂŒlle eines witzigen Einfalls sein.â âManche Leute hĂ€ngen wohl darum so an der Natur, weil sie als verzogne Kinder, sich vor dem Vater fĂŒrchten und zu der Mutter ihre Zuflucht nehmen.â âDen Satz des Widerspruchs zu vernichten, ist vielleicht die höchste Aufgabe der höhern Logik.â (Fr. Hardenberg)
âWitzige EinfĂ€lle sind die SprĂŒchwörter des gebildeten Menschen.â âEin Fragment muss gleich einem kleinen Kunstwerk von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel.â âDer Witz ist das Prinzip und Organ der Universalphilosophie.â
(Fr. Schlegel)
Die âChrestomathien" aus Werken Jean Pauls sollten auch gegen Frickes gattungstheoretische Bedenken wieder aufgelegt und die ungedruckten sechs Aphorismenkonvolute endlich herausgegeben werden nach 200 Jahren : Ein Skandal. Seine Aphorismen verbinden Poesie und Philosophie wie Idylle und Satire auf vorbildliche Weise, auch im Roman.
âSprachkĂŒrze gibt Denkweite.â âMan hat die Furcht nur, um hoffen zu können.â âDie meisten reden origineller als sie schreiben.â âEin Buch ist fĂŒr das Volk ein StĂŒck Kirche oder Religion.â âDer erste Bettler nach einer Feuersbrunst bekommt am meisten.â (Jean Paul Richter)
F. Hebbel schrieb pointiertere TagebĂŒcher als der weichere Goethe-Epigone Grillparzer:
âEinfĂ€lle sind die LĂ€use der Vernunft.â âDie Welt will nicht Heil, sondern einen Heiland.â âMit Blitzen kann man die Welt erleuchten, aber keinen Ofen heizen.â
âEigensinn ist das wohlfeinste Surrogat fĂŒr Charakter.â
(Friedrich Hebbel)
âDas Gesetz straft das Verbrechen, die Natur die Ungeschicklichkeit.â âWas der Staat dem Verhungernden gibt, muss er dem Hungernden nehmen.â âWenn jemand meinte, die BĂ€ume wĂ€ren da, um den Himmel zu stĂŒtzen, so mĂŒssten sie ihm alle zu kurz vorkommen.â (Franz Grillparzer)
H. Heines Aphorismen sind Pariser Esprit auf Deutsch, oft witzig verpuffende Gags ohne weiterentwickelbare Vieldeutigkeit und Verweisungsvermögen.
âLuther erschĂŒtterte Deutschland - aber Francis Drake beruhigte es wieder : er gab uns die Kartoffel.â
âDie Toren meinen, um das Kapitol anzugreifen, mĂŒsse man zuerst die GĂ€nse angreifen.â âDie Gesellschaft ist immer Republik - die einzelnen streben immer empor, und die Gesamtheit drĂ€ngt sie zurĂŒck.â (H. Heine)
Schopenhauer war eher Essayist als Aphoristiker und verachtete die Konzision um jeden Preis als witzlose Spielerei auf Kosten des Gedankens. Seine âAphorismen zur Lebensweisheitâ sind alles, auch alles Gute, aber keine Aphorismen, es sei denn, man zitiere daraus besonders pointierte Sentenzen.
âDie unbestimmte Sehnsucht und Langeweile sind einander verwandt.â âWas dem Herzen widerstrebt, lĂ€sst der Kopf nicht ein.â âDer Tod versöhnt den Neid ganz, das Alter schon halb.â âMan lernt nur dann und wann etwas; aber man vergisst den ganzen Tag.â (Arthur Schopenhauer)
Fr. Nietzsche schrieb die bisher klĂŒgsten Philosophorismen, obwohl der selbstgefĂ€llig pathetische VerkĂŒnderton des Pastorensoh...