C. MITTEL- UND FERNĂSTLICHE MYSTIK
8. Daoismus
8.1 Einleitung
Der Daoismus (Ă€ltere Schreibweise: Taoismus) entwickelte sich in China etwa um 500 v. Chr. Als ihr BegrĂŒnder wird vor allem Laozi (Ă€ltere Schreibweise: Lao Tse) angesehen, der die Grundgedanken des Daoismus in seinem Buch âDaodejingâ (Ă€ltere Schreibweise: Tao Te King), einer Sammlung von 81 kurzen Kapiteln, niederschrieb.
Der andere groĂe Klassiker des Daoismus ist Zhuangzi (Ă€ltere Schreibweise Dschuang Dsi bzw. Tschuang Tse), der um 300 v.Chr. lebte und in seinem Werk âDas wahre Buch vom sĂŒdlichen BlĂŒtenlandâ die daoistischen Gedanken ausfĂŒhrlich in vielen phantasievollen Gleichnissen, GesprĂ€chen und Anekdoten beschreibt.
Eine weitere bedeutende philosophische Richtung in China ist die des Kongzi (bekannter unter dem Namen Konfuzius), der möglicherweise ein Zeitgenosse von Laozi war. Seine Lehre befasst sich ĂŒberwiegend mit dem sozialen Zusammenleben der Menschen, der Menschlichkeit, der Sittlichkeit, den Pflichten, den Eigenschaften des wahren Herrschers â hat also zur Mystik keine unmittelbare NĂ€he. (Fischer-Schreiber 1994, S. 205 f.)
Der Daoismus in seiner ursprĂŒnglichen Form, von dem hier im Folgenden die Rede sein wird, kann als groĂes religiös-philosophisches System angesehen werden. (Davon zu unterscheiden ist allerdings der spĂ€tere Daoismus als polytheistische Volksreligion, der viele magische und alchemistische Elemente und Riten mit aufgenommen hat. Manche Verfasser differenzieren daher zwischen âphilosophischem Daoismusâ und âreligiösem Daoismusâ, s. z.B. Bock 2003, S.9 f.) In seinem Zentrum steht kein personaler Gott, sondern ein ĂŒberpersönliches geistiges Prinzip, das Dao (Ă€ltere Schreibweise: Tao) -anders als im volksreligiösen Daoismus, dort wurde Laozi spĂ€ter sogar in die Götterwelt aufgenommen.
Um den Vergleich mit anderen mystischen Richtungen zu erleichtern, soll die Darstellung des Daoismus auch hier wieder in folgende Abschnitte untergliedert werden:
- Das unbenennbare Dao als Ursprung aller Dinge
- Die Einheit mit dem Dao
- Der Weg zum Dao
- Leben im Einklang mit dem Dao
Dazu folgende Anmerkung: Wie oben in Kapitel 3.2 d ausfĂŒhrlicher diskutiert, wird von einigen Mystikern die Ansicht vertreten, dass man die höheren Stufen auf dem spirituellen Weg zu Gott nicht aus eigener Anstrengung erreichen kann, dass dies allein durch Gottes Gnade geschehen kann. Infolgedessen soll im Folgenden bei der Darstellung des Daoismus zwischen dem Weg des Menschen zum Dao (Teil c) und dem Leben des Menschen im Einklang mit dem Dao (Teil d) unterschieden werden, auch wenn diese Beschreibungen sich hĂ€ufig ĂŒberschneiden. Damit soll offengelassen werden, wie der Daoismus zu der Problematik steht, inwieweit der Mensch seine spirituelle Entwicklung aus eigener Kraft fördern kann.
8.2 Das unbenennbare Dao als Ursprung aller Dinge
Das Dao wird oft beschrieben als âdas absolute, unnennbare Sein und als letzte RealitĂ€t, die in allen ĂuĂerungen der Erscheinungswelt als wirkende Kraft vorhanden istâ (Dinzelbacher 1998, S. 87), als âdie höchste Wirklichkeit und Kraft des Universums, der Grund von Sein und Nichtseinâ (Watts et al. 2003, S. 71), als âdie göttliche Vernunft des Universums, die Quelle aller Dinge, das lebensspendende Prinzip, es gestaltet und verwandelt alle Dingeâ (Lao-Tzu und Yutang 1985, S. 22).
Das Dao selbst ist jedoch im Grunde nicht benennbar, nicht beschreibbar. So beginnt gleich das erste Kapitel des Daodejing des Laozi mit dem Vers:
âDas Dao, das sich aussprechen lĂ€sst,
ist nicht das ewige Dao.
Der Name, der sich nennen lÀsst,
ist nicht der ewige Name.
»Nichtsein« nenne ich den Anfang von Himmel und Erde.
»Sein« nenne ich die Mutter der Einzelwesen.â
(Laotse und Wilhelm 2004, Kapitel 1)
(Anmerkung:
Die Texte aus dem âDaodejingâ von Laozi und aus dem Werk âDas wahre Buch vom sĂŒdlichen BlĂŒtenlandâ von Zhuangzi werden im Folgenden jeweils, wenn nicht anders angegeben, zitiert nach den meistbenutzten klassischen Ăbersetzungen von Richard Wilhelm aus den Jahren 1910 bzw. 1912 (Laotse und Wilhelm 2004; Zhuangzi und Wilhelm 2002). Dieser gibt das Wort Dao im Deutschen mit âSINNâ wieder. Andere Ăbersetzer benutzen hierfĂŒr das Wort âWegâ. Um das Problem der Konnotationen bei diesen Begriffen zu vermeiden, soll im Folgenden, einer hĂ€ufigen Praxis folgend, der Begriff âDaoâ unĂŒbersetzt stehen bleiben â auch wenn hierbei die Gefahr besteht, das Prinzip Dao zu personifizieren.)
An anderer Stelle im Daodejing heiĂt es entsprechend:
âDas Dao in seiner Verborgenheit ist ohne Namen.â
(Laotse und Wilhelm 2004, Kapitel 41)
sowie
âDas Dao als Ewiges ist namenlose Einfalt.â
(Laotse und Wilhelm 2004, Kapitel 32)
Zhuangzi sagt ĂŒber das Dao:
âDem Dao darf man kein So-Sein zuschreiben, das So-Sein darf man nicht als Nicht-So-Sein (reines Sein) bezeichnen. Dao ist einfach eine Bezeichnung, die in ĂŒbertragener Weise gebraucht wird. [...] Das Dao ist Grenzbegriff der dinglichen Welt. Reden und Schweigen reicht nicht aus, es zu erfassen. Jenseits vom Reden, jenseits vom Schweigen (liegt sein Erleben), denn alles Denken hat Grenzen.â (Zhuangzi und Wilhelm 2002, Buch XXV,10; S. 273 f.)
Und an anderer Stelle:
âDas Dao kann man nicht hören, denn das, was man hören kann, ist nicht das Dao; das Dao kann man nicht sehen, denn das, was man sehen kann, ist nicht das Dao; vom Dao kann man nicht sprechen, denn das, wovon man sprechen kann, ist nicht das Dao. WeiĂt du um die Formlosigkeit dessen, was der Form Form gibt? Das Dao entspricht keinerlei Namen. [âŠ]
Wer antwortet, wenn man ihn nach dem Dao fragt, der weiĂ nicht um das Dao. Also kann man nichts ĂŒber das Dao erfahren, auch wenn man danach fragt. Denn nach dem Dao soll man nicht fragen, und auf Fragen nach dem Dao soll man nicht antworten. Fragt jemand nach dem, wonach man nicht fragen kann, dann ist die Frage vergeblich. Antwortet jemand auf das, worauf man nicht antworten kann, dann ist die Antwort sinnlos. Wer also auf diese Weise der Vergeblichkeit mit Sinnlosigkeit begegnet, der sieht weder das Ă€uĂere Universum, noch ist er sich des groĂen Ursprungs im Inneren bewusst.â (Nach der Ăbersetzung von Mair/Schuhmacher in Zhuangzi 2013, Buch 22,7; S. 259. Der Begriff âWEG" wurde auch hier wieder mit Dao wiedergegeben.)
Das Dao ist ohne Anfang, aber alle Dinge entstehen aus ihm:
âIch weiĂ nicht, wessen Sohn es ist.
Es scheint frĂŒher zu sein als Gott.â
(Laotse und Wilhelm 2004, Kapitel 4)
(Anmerkung: Der Begriff âGottâ in der letzten Zeile wird, je nach Verfasser, auch ĂŒbersetzt mit âUrahnâ, âKaiser des Altertumsâ, âHimmelskaiserâ, âUrsprungâ u.a.)
âEs gibt ein Ding, das ist unterschiedslos vollendet.
Bevor der Himmel und die Erde waren, ist es schon da,
so still, so einsam.
Allein steht es und Àndert sich nicht.
Im Kreis lÀuft es und gefÀhrdet sich nicht.
Man kann es nennen die Mutter der Welt.
Ich weiĂ nicht seinen Namen.
Ich bezeichne es als Dao.â [âŠ]
Der Mensch richtet sich nach der Erde.
Die Erde richtet sich nach dem Himmel.
Der Himmel richtet sich nach dem Dao.
Das Dao richtet sich nach sich selber.â
(Laotse und Wilhelm 2004, Kapitel 25)
âAlle Dinge unter dem Himmel entstehen im Sein.
Das Sein entsteht im Nichtsein.â
(Laotse und Wilhelm 2004, Kapitel 40)
âAlle Dinge verdanken ihm ihr Dasein.â
(Laotse und Wilhelm 2004, Kapitel 34)
âDas Dao erzeugt die Eins.
Die Eins erzeugt die Zwei.
Die Zwei erzeugt die Drei.
Die Drei erzeugt alle Dinge.â
(Laotse und Wilhelm 2004, Kapitel 42)
In demselben Sinne schreibt Zhuangzi:
âDas ist das Dao: es ist gĂŒtig und treu, aber es Ă€uĂert sich nicht in Handlungen und hat keine Ă€uĂere Gestalt; man kann es mitteilen, aber man kann es nicht fassen; man kann es erlangen, aber man kann es nicht sehen; es ist unerzeugt sich selber Wurzel. Ehe Himmel und Erde waren, bestand es von Ewigkeit; Geistern und Göttern verleiht es den Geist; Himmel und Erde hat es erzeugt. Es war vor aller Zeit und ist nicht hoch; es ist jenseits alles Raumes und ist nicht tief; es ging der Entstehung von Himmel und Erde voran und ist nicht alt; es ist Ă€lter als das Ă€lteste Altertum und ist nicht greis.â (Zhuangzi und Wilhelm 2002, Buch VI,1; S. 87)
Und auf die Frage von âMeister Ostweilerâ an Zhuangzi: âWas man das Dao nennt, wo ist es zu finden?â. antwortet dieser âEs ist allgegenwĂ€rtigâ.
Und es schlieĂt sich folgender Dialog an:
âMeister Ostweiler sprach: »Du musst es nĂ€her bestimmen.«
Zhuangzi sprach: »Er ist in dieser Ameise.«
Jener sprach: »Und wo noch tiefer?«
Zhuangzi sprach: »Er ist in diesem Unkraut.«
Jener sprach: »Gib mir ein noch geringeres Beispiel!«
Er sprach: »Er ist in diesem tönernen Ziegel.«
Jener sprach: »Und wo noch niedriger?«
Er sprach: »Er ist in diesem Kothaufen.«
Meister Ostweiler schwieg stille.
Da sagte Zhuangzi: »Eure Fragen berĂŒhren das Wesen nicht. [âŠ.] Ihr mĂŒsst nur nicht in einer bestimmten Richtung suchen wollen, und kein Ding wird sich Euch entziehen. Denn so ist das höchste Dao. Es ist wie die Worte, die den Begriff der GröĂe bezeichnen. Ob ich sage: âșallgemeinâč oder âșĂŒberallâč oder âșgesamtâč: es sind nur verschiedene AusdrĂŒcke fĂŒr dieselbe Sache, und ihre Bedeutung ist Eine. Versuche es, mit mir zu wandern in das Schloss des Nicht-Seins, wo alles Eins ist.â
(Zhuangzi und Wilhelm 2002, Buch XXII,5; S. 230 f.)
Das Dao ist also unbenennbar, namenlos, ursachenlos, es ist immer schon da, allgegenwĂ€rtig, es ist âfrĂŒher als Gottâ, es ist der Urheber der Welt und aller Dinge.
Diese E...