Lebenserinnerungen
von Luise Werth
Meiner lieben Hilde zum Andenken an Ihre Schwester Luise.
Einiges ĂŒber meine Vorfahren.
Mein Wissen ĂŒber meine Vorfahren kann man wohl nicht exakt nennen. Eigentlich hat mich weder Verwandtschaft noch systematische Ahnenforschung je interessiert. Da ich aber bei meinen GroĂeltern vĂ€terlicherseits aufgewachsen bin, bleibt nicht aus, dass ich etliches ĂŒber die nĂ€chsten Vorfahren gehört und behalten habe, aber mehr Anekdotisches als Aufbauendes.
Der UrurgroĂvater meines, GroĂvaters muss aus der NĂ€he von Westhoven bei Hagen gekommen sein. Dort vermuten wir ein Bauerngut auf einen Werth, d.h. angeschwemmtes Land. Ihr Name war anders. Daher auch die Unmöglichkeit der Nachforschung. Der direkte Vorfahr war wohl ein jĂŒngerer Sohn ohne Erbe, der von zu Hause fort ging, um eine Eigenexistenz als Arbeiter spĂ€ter Handwerker sich zu schaffen. Er lieĂ sich in Barmen unter Namen des heimatlichen Gutes âWerthâ nieder. - Am Anfang des 19. Jahrhunderts wissen wir, das einer der Söhne Werth wĂ€hrend der Freiheitskriege in die Pfalz verschlagen wurde und dort seine Frau kennen lernte. Ein Muster von einer Reise aus der Zeit ist die ErzĂ€hlung, wie die junge Frau aus Barmen aus Heimweh es auf sich nahm, mit ihrem Kind, das sie auf den RĂŒcken gebunden hatte, und einem Korb mit WĂ€sche und Lebensmittel auf dem Arm ihre Heimat besuchte. ZunĂ€chst musste sie zu FuĂ nach Köln gehen, dann per Fracht- oder Ruderschiff den Rhein hinauf bis Bingen oder Ingoldheim fahren, schlieĂlich weiter zu FuĂ in die Pfalz hinein wandern. Dann kam natĂŒrlich dieselbe Tour rĂŒckwĂ€rts. Das hat mir als Kind groĂen Eindruck gemacht. Damals hatte man noch keine Ahnung, dass zu unseren Zeiten noch ganz andere Wandrungen ausgefĂŒhrt wurden und das fast von einem ganzen Volk.
Der Vater meines GroĂvaters war BĂ€cker. Durch groĂen FleiĂ und Sparsamkeit brachte er es zu einem wohlhabenden Mann, der unter anderem mehrere HĂ€user besaĂ. Aber er war ein harter Mann und kannte nur Arbeit, Pflicht, Streben und sein treues, reformiertes Bekenntnis. Wenn eines seiner Kinder sagte: âVater, ich habe heute Geburtstagâ dann brummte er nur: âSo?â oder, wenn er gute Laune hatte, dann sagte er: âWas, so alt und noch so ne Dummschnute!â
Dieser UrgroĂvater hatte in erster Ehe eine Frau, die in ihrer Putzwut (eine echte Barmer Eigenschaft) die Kunden fast aus dem Laden trieb. In 2. Ehe nahm er eine Witwe, die einen katholischen Sohn (Joseph) mitbrachte. Da aber der Geist des Hauses sehr streng protestantisch war, wollte der Junge nicht in der katholischen Schule bleiben, sprang zum Fenster hinaus und rannte nach Hause. Da brachte ihn der Stiefvater zu seinen reformierten Prediger. Der aber weigerte sich, den katholischen Jungen aufzunehmen. Deshalb ging der Vater Werth - und das war damals ein Entschluss wie ein Konfessionswechsel - zum lutherischen Pfarrer, der das Kind aufnahm. Drei Söhne und drei Töchter entstammten(auĂer dem mitgebrachten Kind) der Ehe. Karl (Carl Friederich Werth *11.9.1826), mein GroĂvater, war der Ălteste. Er musste im kĂ€ltesten Winter um 4 Uhr aus dem Bett und heiĂe Brötchen herumtragen. Wenn ihm das schon nicht passte, dann erst recht nicht das Auseinanderzupfen von Mist auf dem Acker. Er ist sein Lebtag sehr empfindlich gewesen. Hat er doch seinem Bruder verweigert, ihm sein Hemd zu leihen, selbst wenn er esâ wie es sich gehörte, gewaschen zurĂŒckbekĂ€me. Sein Vater sagte von ihm âDer Jung ist zu faul. Der muss Schulmeister werden.â Wir haben darĂŒber oft gelacht denn einen fleiĂigeren Mann als meinen GroĂvater kenne ich nicht. Auf dem Seminar schon hat er nach seiner Arbeit die NĂ€chte durch auf der Orgel geĂŒbt, bis er dabei eingeschlafen ist. SpĂ€ter wurde er Gymnasiallehrer. Wie man ihn schĂ€tzte, beweist, dass man ihm die Direktorstelle anbot, was er aber wegen fehlendem UniversitĂ€tsstudium ablehnte. Nebenbei war er alleiniger SekretĂ€r der Duisburger Handelskammer, eine Stelle, die nach ihm 4 andere Leute versahen. AuĂerdem richtete er die ersten, freiwilligen Berufsschulen ein und schrieb die dazu noch nicht existierenden BĂŒcher. Wie weitgehend und vielseitig seine PlĂ€ne waren, habe ich immer bewundert. Erst als der Buchdrucker gegen seinen Willen sein Schulbuch auf Stahlplatten druckte, sodass es nicht jedes Jahr geĂ€ndert werden konnte, ist es allmĂ€hlich veraltet. Dass GroĂvater sonntags in der Salvatorkirche die Orgel spielte, war seine Freude. Und wenn er phantasierte in Vor- oder Nachspiel, hatte er stets eine aufhorchende Gemeinde. Nun, also faul konnte man ihn nicht nennen. Doch körperlich war er ungeschickt. Wanderungen liebte er gar nicht.
Da war sein Bruder Robert das gerade Gegenteil. Er war sehr gewandt und wurde Oberturnlehrer in Duisburg. Geistig aber reichte er nicht entfernt an meinen Ă€lteren Bruder. Und musikalisch war er keineswegs. Einen 3. Sohn, der Lehrer in Wesel war, habe ich nie gesehen. Dessen Sohn habe ich in Frankfurt kennen gelernt, als er nach dem ersten Weltkrieg als FlĂŒchtling aus Genua kam und sich eine neue Existenz grĂŒnden musste. Er war Kaufmann. - Eine der Töchter des UrgroĂvaters fĂŒhrte ihrem Bruder Robert den Haushalt, nachdem er seine Frau frĂŒh verloren hatte. Eine 2. Tochter, Tante Lenchen, die ich in hohem Alter in Barmen sah, hatte einen Hohmann geheiratet. Es war im Jahre 1923, als ich bei vollkommener Entwertung unseres Geldes auf einer FerienrĂŒckreise plötzlich festsaĂ, da die EnglĂ€nder die besetzte Zone unvorhergesehener Weise sperrten. Damals suchte und fand ich rĂŒhrende Aufnahme bei dieser alten Tante Lenchen, obgleich sie selbst nur mit VerpfĂ€ndung ihres Sparkassenbuches bei den Kaufleuten Essen beschaffen konnte. Weshalb ich auch sobald wie möglich auf Schmuggelwegen, ohne eigenen Pass mich nach DĂŒsseldorf weiter durchschlug. Diese Tante Lene also war eine liebe, bescheiden stattliche Frau und ist mir in bestem GedĂ€chtnis. â
Nun zu GroĂvaters Frau. Sie stammte aus Rees am Niederrhein.
Als ihre Eltern silberne Hochzeit feierten, brachte ein junger Mann seinen Freund mit, eben den jungen Karl Werth. Dieser sehr ernste Mann und die lustige, gewandte, ĂŒberaus lebhafte Elise MĂŒller (Elise Friederike Maria MĂŒller *23.4.1826) fanden sofort, dass sie zusammengehörten. Und bei all ihrer Verschiedenheit waren sie wie die Brautleute bis in ihr hohes Alter. - Sie haben die diamantene Hochzeit und fast die eiserne gefeiert. Aber die damalige Verlobung fand in Barmen keine Zustimmung. Auf Diktat der Mutter musste die Schwester ihm schreiben âWeg mit der Braut!â War doch der Junge gerade mit seiner Ausbildung fertig. Aber - so fĂŒgte die Schwester hinzu. - sie war im
âKnöllerâ. Als der junge BrĂ€utigam 2 Jahre spĂ€ter fĂŒr 200 Thaler Jahresgehalt die Stelle am Duisburger Gymnasium bekam, fanden die beiden das genug zum Heiraten.
Aber nun möchte ich auch etwas von der Familie MĂŒller nachholen:
Georg MĂŒller, der Brautvater, hatte ein sehr bewegtes Leben hinter sich bevor er in Rees landete. Sein Vater war Pfarrer in Hanau am Main gewesen. Er starb frĂŒh und hinterlieĂ 2 Söhne als Vollwaisen. Der Vormund nahm sie von der Schule und steckteâ sie zu einem Goldschmied in die Lehre. Der Ălteste riss sofort aus und hat mit FleiĂ und Hungern es bis zum Pfarrer gebracht, ist aber dann frĂŒh an der Schwindsucht gestorben. Der 14jĂ€hrige Georg blieb bei seinem Meister, bis er 17 wurde. Dann floh auch er und trat in das LĂŒtzowsche Freikorps ein. Er hat dann den Freiheitskrieg mitgemacht und es dabei zu irgendeiner Offiziersgrad gebracht - nach seinem SĂ€bel zu urteilen, den uns 1918 die Franzosen gestohlen haben. Aber in dem tĂŒckischen Fieberklima bei der Belagerung von Metz holte er sich den Typhus. (Hat doch schon Karl V. aus demselben Grund eine Armee verloren) Kurz, der junge Soldat wurde mitten im Winter in einem offenen Kahn die Mosel abwĂ€rts transportiert. Im Fieberdelirium stĂŒrzte er sich ins Wasser, kletterte einen BrĂŒckenpfeiler hinauf und blieb dann oben auf der Strasse liegen. Am anderen Morgen fand ihn da ein Bauernknechtâ lud ihn auf eine Schubkarre und brachte ihn zu seiner Gutsherrin. Diese nahm ihn auf und pflegte ihn gesund. Hatte doch eine spanische Familie ihren einzigen Sohn, den Napoleon I. mitgenommen hatte, bis an seinen Tod gepflegt. Aus Dankbarkeit nahm sie nun selbst einen Fremden auf. Sie hatte gern den Findling adoptiert. Aber dann sollte er katholisch werden. Das konnte er nicht und floh heimlich wieder fort. Er hat es nie ĂŒberwunden, dass er das der guten Frau antun musste.
SchlieĂlich kam er in das verschlafene GrenzestĂ€dtchen Rees. ZunĂ€chst fing er einen Laden an. Aber er passte zum Kaufmann wie ein Kamel zum Zitterspielen. Ein Grobian war er auch. (Wie die Geschichte von den Lampenzylindern zeigt) Dann ĂŒbernahm er die Stadtrechnungen und die der groĂen umliegenden GĂŒter. Auch hatte er bei Auktionen zu agieren. Wenn da die Leute nach seiner Meinung nicht hoch genug boten, ĂŒberbot er sie selbst und blieb denn auf den komischsten Dingen hĂ€ngen, z.B. auf einen Wagen ohne Pferd oder auf der OberhĂ€lfte eines Hauses (Was spĂ€ter sein Vater schwer wieder los wurde). Seine Frau war so recht geeignet, dem hitzigen, kleinen Mann das Gegengewicht zu halten. Sie ging, still und sanft ihren Weg. Auch war sie eine gebildete, wohlerzogene Frau die ihren 2 Töchtern (Elise und Auguste) sehr gut beibrachte, was sieh schickte. Meine GroĂmutter legte spĂ€ter auch bei mir sehr groĂen Wert darauf aber dann waren die Sitten schon reichlich veraltet, und ich wurde manchmal zum Gespött meiner Kameraden). Urgrossmutter MĂŒller war verwandt mit der Tabakimportfirma Böninger in Duisburg, auĂerdem mit der Familie Davidis, von denen eine Tochter das viel gepriesene Kochbuch schrieb - wonach sich aber schon lange keine Geldbörse mehr richten kann.
Aber noch ein StĂŒckchen von UrgroĂvater MĂŒller. Er muss so was wie ein Stadtoriginal gewesen sein. Eines Tages in Jahre 1848 traf er auf ein Rudel revolutionierender Jungendlichen. Die hoben ihn mit Geschrei auf: âDa ist der Herr MĂŒller. Der soll uns sagen, was Recht ist.â Sie brachten ihn johlend in die nĂ€chste Wirtschaft, stellten ihn auf den Tisch und riefen: âHerr MĂŒller, nun sagen Sie uns, ob es Recht ist, Revolution zu machen!â âDer Teufel soll Euch holen, wenn Ihr nicht Ruhe und Ordnung haltet!â schrie sie der UrgroĂvater an und hielt ihnen dann eine VaterlĂ€ndische Pauke.
SchlieĂlich sagten sie alle einmĂŒtig: âDer Herr MĂŒller hat Recht.â Und damit war in Rees die Revolution 1848 zu Ende.-
Auch GroĂvater Karl Werth hat â1848 mitgewachtâ. Die BĂŒrger hatten gegen den zu erwartenden Einmarsch der RevolutionĂ€re in Barmen Barrikaden gebaut und eine BĂŒrgerwehr mit Schusswaffen ausgerĂŒstet. In dieser BĂŒrgerwehr wurde auch der junge Lehrer Carl Werth bestimmt, mitzutun.
MilitĂ€risch ausgebildet war er nie. Die Lehrer waren damals frei vom Kriegsdienst. Er wusste kaum, was oben oder unter am Gewehr war. So musste er Wache an der Barrikade stehen. Aber glĂŒcklicherweise kam niemand. Die Strasse war wie ausgestorben. SchlieĂlich will ein junges MĂ€dchen passieren. âHalt!â ruft die Wache. âOch, bist Du toll, Carlâ kam es zurĂŒck. âEinerlei, wenn ich âhaltâ sage, musst Du stehen, und ich muss Dich nach Hause eskortierenâ antwortete die strenge Wache. Das MĂ€dchen war eine ehemalige Mitkonfirmandin. Na, dann lieĂ sie sich die militĂ€rische Bewachung lachend gefallen. Aber soviel ich weiĂ, muss GroĂvater damals schon kurz vor der Hochzeit gestanden haben. Wie er da nach Barmen kam, ist mir nicht klar. Beide Grosseltern waren 22, als sie heirateten, GroĂmutter ein halbes Jahr Ă€lter als er.
Dies veranlasste sie noch im hohen Alter im Scherz zu sagen: âDas verstehst Du nicht. Du bist noch zu jung.â Aber im Allgemeinen war GroĂvater der absolute Diktator der Familie. Mein Vater, der in wissenschaftlichen Dingen, sehr selbstĂ€ndig dachte, hat sich in Lebensfragen nie vom Urteil seines Vaters lösen können. Anders war sein Ă€lterer Bruder Karl. Er war auch fĂŒr Vater der glĂŒckliche Bahnbrecher. Nicht nur, dass er als Student es wagte zu bitten, das man die Mutter als Schneider ersetzen solle durch einen Berufsschneider (was bei aller Liebe fĂŒr die Mutter doch wohl nötig war). Er ist sogar gegen den Willen seines Vaters Burschenschafter geworden und hat die Frankonia in Bonn wieder neu gegrĂŒndet. Die dabei entstehenden Schulden musste er zwar auf die eigene Kappe nehmen und hat deshalb in den UniversitĂ€tsferien seine Börse als GebĂ€udelehrer auf einem OstpreuĂischen Gut wieder normalisiert. Als er nach Bonn zurĂŒckfuhr, hatte er bis zur Bahn eine Kutsche zu benutzen. Und da auf dem Gut ein GestĂŒt war, deren Tiere bewegt werden mussten, kam er sechs spĂ€nnisch vor dem StationsgebĂ€ude angefahren und nahm zum Erstaunen des Stationsvorstehers ein Billet 4. Klasse. Auch politisch war der Onkel sehr selbststĂ€ndig. Er ging trotz seines sonst guten VerhĂ€ltnisses mit seinem Gutsherren zu den Propagandareden seines Gegners und war begeisterter Bismarkverehrer Zu dessen Geburtstag lies er es sich nicht nehmen, als Abordnung nach Friederichsruh zu fahren. Politisch war auch seine Mutter sehr interessiert. Dem Kaiser war auch sie nicht grĂŒn wegen der Absetzung des groĂen Kanzlers. Onkel Karl behauptete, dass in dem Kladderadatsch auf dem Blatt âAuszug der Nörglerâ die GroĂmutter vergessen worden sei. - Also ein DraufgĂ€nger war der Onkel. Eines Tages kam er als Junge klatschnass nach Hause und bekam seine PrĂŒgel, sagte aber nichts. Es stellte sich bald heraus, dass er ein Schifferkind gerettet hatte, indem er einen Kopfsturz von der MĂŒhlheimer BrĂŒcke zwischen zwei Schiffen durch gemacht und das Kind glĂŒcklich noch gefischt hatte. - Beide Söhne Karl und Fritz hatten den unverwĂŒstlichen Humor ihrer Mutter geerbt, wĂ€hrend Anna, die Ă€ltere Schwester nicht das Geringste davon hatte. Sie war sehr hĂŒbsch und intelligent, anfĂ€nglich der Liebling des Vaters. Als sie aber mit 40 Jahren als arbeitsunfĂ€hig wieder heim kam, entstand eine volle Antipathie zwischen den Beiden. Sie war 20 Jahre Leiterin eines sehr vornehmen groĂherzoglichen Pensionats in Baden-Baden gewesen, die Vergötterung ihrer SchĂŒlerinnen, und in vollkommne HofallĂŒren hineingewachsen. Dann konnte sie sich in die bĂŒrgerlichen VerhĂ€ltnisse und das Joch ihres Vaters nicht zurĂŒckfinden. Sie ist bis in ihr hohe Alter wegen ihrer Intelligenz von Besuchern gern gehört worden aber wegen ihrer Hersch- und Hasssucht fĂŒr die Familie unausstehlich. Die GroĂeltern hatten noch drei Kinder gehabt, von denen 2 an Scharlach und eins an galoppierender Schwindsucht frĂŒh starben. Diese Krankheit der kleinen Emmy, die sonst ein ganz krĂ€ftiges Kind gewesen war, kam von der Heilmethode der damaligen Ărzte, die mit Blutschröpfen fast alles behandelt. Also sechs Kinder, oft auch sechs interne SchĂŒler, dazu, wie das damals möglich, war zwei mitwohnende DienstmĂ€dchen, das war schon ein ganz stattliches Haushalt. Und wenn nicht die GroĂmutter mit NĂ€hen und Flicken die halbe Nacht GroĂvater bei seinen Schreibarbeiten Gesellschaft geleistet hĂ€tte, wĂ€re es kaum gegangen. Aber so konnten sie nicht nur ihre Kinder studieren lassen, sie hatten bald ein eigenes Haus und hinterlieĂen spĂ€ter ein ansehnliches Vermögen (gut dass sie nicht erlebt, dass die Inflation 1923 alles vernichtet). Erholungsreisen gab es nur nach Rees, das Eldorado meines Vaters, vor allem wegen des riesigen Obstgartens. Eine zweite Quelle groĂer Freunde waren die ZusammenkĂŒnfte mit Freunden zu guter Hausmusik. Mutter hatte eine sehr schöne Stimme und GroĂvater begleitete sie. Auch alle anderen Familienmitglieder waren sehr musikalisch. Der Vater lernte kein Instrument auszuĂŒben, da sein Vater aus Mangel an Zeit den Unterricht seiner Tochter ĂŒbergab. Von seiner Schwester wollte sich der Junge nicht sagen lassen, was er spĂ€ter sehr bedauert. Was lĂ€sst sich weiter berichten? Das Ende war tragisch. Onkel Karl baute ein Haus fĂŒr die Eltern und sich in Bochum, heiratete plötzlich, sehr spĂ€t eine Frau aus einer ehemals reichen, aber degenerierten Familie. Sie war nicht nur die Ursache zu seinem frĂŒhen Tod, sondern auch dazu, dass das Leben seiner alten Eltern in tiefes UnglĂŒck gefĂŒhrt wurde, bis es schlieĂlich gelang die Frau zu entmĂŒndigen und in eine Anstalt zu bringen. Ihr Sohn hatte die besondere Intelligenz seines Vaters aber auch die CharakterschwĂ€che seiner Mutter geerbt. Dazu kam, dass er ebenso eine unertrĂ€gliche Frau aus altem Adel heiratete, die die PrĂ€tention auf das Recht vom vornehmen nichts tun hatte. Auch er ging frĂŒh zugrunde.
Es blieb von unserer Familie kein mĂ€nnlicher Nachkomme. Auch die Linie von Fritz Werth in Wesel ist ausgestorben. Der einzige Sohn hatte drei Töchter. Aber Robert Werth hatte zwei Söhne, beide sehr intelligent, ĂŒberstrebsam, ganz amusisch. Sie heirateten beide viel Geld. Albert starb kinderlos. Alfred hatte zwei Söhne, von denen der Ă€lteste charakterlich sehr schwierig war, man kann sogar sagen abnormal. Der JĂŒngste hatte die gewinnende LiebenswĂŒrdigkeit der Mutter geerbt. Er fiel im letzten Krieg und hinterlieĂ einen Sohn und eine Tochter. So ist Hans-Hermann Werth der letzte dieses Namens. Aber durch die neue Inflation sowie die Anfeindungen und sadistischen Prozesse seines Onkels Alfred ist er so arm, dass er Arbeiter werden wird. Es fehlt ihm aber auch an Strebsamkeit. Das ist das Ende des stolzen in drei Generationen aufgehĂ€uften Reichtums.
Die Familie meiner Mutter hieĂ Dallwig. Sie stammte aus Kurhessen. Es war eine alte Pfarrersfamilie, von denen nach langer Generationsreihe mein GroĂvater als erste die juristische Laufbahn einschlug. Nichtsdestoweniger war er sehr religiös. Im Gegensatz zu seinem Vater, der aus dem rationalistischen Zeitalter stammte, schloss er sich der streng lutherischen, pietistischen Bewegung an. So sehr wie er fanatische Althesse und AntipreuĂe war, so streng orthodox religiöse war er und erzog danach seine sieben Kinder, die folglich im Gegensatz dazu fast ganz areligiös wurden. Ich vergaĂ vorher zu erzĂ€hlen, dass ein Onkel von ihm sich schon gestrĂ€ubt hatte, das Pfarramt anzutreten. Aber erst nach dem Tod seines Vaters machte er sich frei und wanderte mit Mutter, Frau und Kindern nach Amerika aus. Von dort hat uns der letzte Dallwig einmal besucht und uns, da er ein wohlhabender Mann war, in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg mehrmals Esspakete geschickt. Wie gesagt, mein GroĂvater war ein Stockhesse. Er lernte als junger Akteur am kurfĂŒrstlichen Hof den negativen Wert seines FĂŒrstenhauses reichlich kennen. Aber dass die PreuĂen sein Land einfach ausgelöscht hatten, konnte er nicht verwinden. Er hat auch den angebotenen Orden abgelehnt. Das Niederwalddenkmal aufzusuchen, trotzdem er auf eine Reise daran vorbei kam, konnte er nicht ĂŒber sich gewinnen. Er war ein kleines, brummiges MĂ€nnchen. Aber zwischen ihm und mir bestand ein ganz sympathisches VerhĂ€ltnis. Auch seine zweite Frau, die Schwester der frĂŒh verstorbenen Ersten, geborene Collmann, konnte ich gut leiden. Sie war stets gĂŒtig, und opferte sich fĂŒr ihre Stieftöchter. Auf die Schulbildung der Töchter legte der GroĂvater, nach alter Mode, keinen Wert dagegen sehr auf ihre hĂ€usliche Ausbildung und eine ausgezeichnete Aussteuer. Aber die berufliche Ausbildung seines Sohnes Ernst lag ihm sehr am Herzen. Dieser hat es aber nur zum Apotheker gebracht. Dazu brauchte man frĂŒher kein Abiturium. DafĂŒr war aber die praktische Ausbildung genauer. FabrikmĂ€Ăig hergestellte Medizin gab es nicht. Es musste jegliche Mixtur selbst hergestellt wird. Darum suchte sich der Onkel Heilpflanzen und Heilwurzeln im Feld selbst zusammen, probierte selber aus und half auch manchen Bauern mit seinem ausprobierten Heilmitteln oder Giften fĂŒr das Vieh und das Ungeziefer. Er war sehr gewissenhaft und fleiĂig wie sein Vater, aber von Depression sehr gequĂ€lt, sodass er sich spĂ€ter das Leben nahm. Sein Sohn Fritz war ihm auf gleiche Weise vorangegangen. Diese quĂ€lende, selbst zerstörende Seelenverfassung muss wohl ein Teil der mĂŒtterlichen Familie Collmann gewesen sein, von denen bestimmt einer (August), wenn nicht zwei in einer Nervenheilanstalt endeten. Von den Schwestern des GroĂvaters scheinen alle geistig und körperlich sehr auf der Höhe gewesen zu sein. Eine GroĂtante Friederike in Kassel hat es nach dem Tod ihres Mannes kaufmĂ€nnisch zu Wohlhabenheit gebracht. Ihr einziger Sohn, Martin Klepper, der zum groĂen Teil mit den Cousinen Dallwig erzogen wurde, war sehr begabt und fleiĂig. Er saĂ im Kasseler Gymnasium neben dem spĂ€teren Kaiser Wilhelm II, mit dem ihn Freundschaft bis zum Tode verband. Er war zuletzt LandesgerichtsprĂ€sident. Eine Tragik war fĂŒr ihn der Charakter seines einzigen Sohnes Otto, eines hervorragend intelligenten Jungen, der aber durch die schwache Erziehung und das Charakterteil seiner energielosen Mutter frĂŒhzeitig der Faulheit, Verschwendungssucht und Liederlichkeit verfiel. Es ist ein Zeichen seiner LeistungsfĂ€higkeit, dass er in den zwanziger Jahren zum Finanzminister berufen wurde, nach Absetzung durch die Nazis erst in China, dann in Amerika wieder zu bedeutenden Stellungen brachte. Aber der Kummer ĂŒber seine Lebensart war der Grund zu dem frĂŒhen Tod seines Vaters.
Was aus den Töchtern des GroĂvaters wurde? Marie heiratete nach Kassel. Sie starb mit 95 Jahr...