Zehnter Teil
Inhaltsverzeichnis
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
XXII
XXIII
XXIV
XXV
XXVI
XXVII
XXVIII
XXIX
XXX
XXXI
XXXII
XXXIII
XXXIV
XXXV
XXXVI
XXXVII
XXXVIII
XXXIX
I
Inhaltsverzeichnis
Napoleon begann den Krieg mit RuĂland, weil er nicht anders konnte als nach Dresden gehen, nicht anders konnte als sich durch die ihm erwiesenen Ehren und Huldigungen verblenden lassen, nicht anders konnte als eine polnische Uniform anziehen und sich der Einwirkung des zu Unternehmungen verlockenden Junimorgens ĂŒberlassen, und weil er Kurakin und spĂ€ter Balaschow gegenĂŒber seinen JĂ€hzorn nicht zu beherrschen imstande war.
Alexander lehnte alle Verhandlungen ab, weil er sich persönlich gekrĂ€nkt fĂŒhlte. Barclay de Tolly gab sich alle MĂŒhe, das Heer so gut wie möglich zu fĂŒhren, um seine Pflicht zu erfĂŒllen und den Ruhm eines groĂen Feldherrn zu verdienen. Rostow sprengte zum Angriff auf die Franzosen los, weil er den Wunsch nicht unterdrĂŒcken konnte, ĂŒber das offene Feld hin zu galoppieren. Und genau ebenso handelten nach MaĂgabe ihrer persönlichen Eigenschaften, Gewohnheiten, VerhĂ€ltnisse und Ziele all die zahllosen an diesem Krieg beteiligten Personen. Sie fĂŒrchteten sich, rĂŒhmten sich, freuten sich, waren unzufrieden und rĂ€sonierten, alles in der Meinung, sie wĂŒĂten, was sie tĂ€ten, und tĂ€ten es um ihrer selbst willen; und doch waren sie sĂ€mtlich unfreiwillige Werkzeuge der Geschichte und verrichteten eine ihnen selbst verborgene, uns aber verstĂ€ndliche Arbeit. Das ist das unabĂ€nderliche Los aller Wirkenden und Handelnden, und sie sind um so unfreier, je höher sie auf der Stufenleiter menschlicher Ehren und WĂŒrden stehen.
Jetzt sind die MÀnner, die im Jahre 1812 mitgewirkt haben, lÀngst von ihren PlÀtzen abgetreten, ihre persönlichen Interessen sind spurlos verschwunden, und nur die geschichtlichen Resultate jener Zeiten liegen vor unsern Augen.
Sobald wir es aber als eine innere Notwendigkeit betrachten, daĂ die Völker Europas unter Napoleons FĂŒhrung in das Innere RuĂlands eindrangen und dort umkamen, wird die ganze, in sich widerspruchsvolle, sinnlose, grausame TĂ€tigkeit der an diesem Krieg beteiligten Menschen fĂŒr uns verstĂ€ndlich.
Die Vorsehung lieĂ alle diese Menschen, die ihre eigenen Ziele zu erreichen trachteten, zur HerbeifĂŒhrung eines einzigen gewaltigen Resultates zusammenwirken, von dem kein Mensch, weder Napoleon noch Alexander und noch weniger irgendein anderer der an diesem Krieg Beteiligten, die geringste Ahnung hatte.
Jetzt ist uns klar, was im Jahre 1812 der Grund des Unterganges der französischen Armee war. Niemand wird bestreiten, daĂ den Untergang der Truppen Napoleons zwei Ursachen herbeifĂŒhrten: einerseits der Umstand, daĂ die Franzosen in spĂ€ter Jahreszeit ohne Vorbereitungen auf einen Winterfeldzug in das Innere RuĂlands eindrangen, und andererseits der Charakter, den der Krieg infolge der EinĂ€scherung russischer StĂ€dte und der Erweckung des russischen Volkshasses gegen den Feind annahm. Damals aber sah niemand voraus, was jetzt einleuchtend erscheint: daĂ nur auf diesem Weg eine Armee von acht mal hunderttausend Mann, die beste auf der Welt und gefĂŒhrt von dem besten Feldherrn, bei dem ZusammenstoĂ mit der halb so starken, unerfahrenen, von unerfahrenen FĂŒhrern befehligten russischen Armee vernichtet werden konnte. Und dies sah nicht nur niemand voraus, sondern es waren sogar alle Anstrengungen von seiten der Russen bestĂ€ndig darauf gerichtet, das zu verhindern, wodurch allein RuĂland gerettet werden konnte; und von seiten der Franzosen waren trotz Napoleons Erfahrung und seines sogenannten Feldherrngenies alle Anstrengungen darauf gerichtet, zu Ende des Sommers Moskau zu erreichen, d.h. gerade das zu tun, was zu ihrem Untergang fĂŒhren muĂte.
In den Geschichtswerken ĂŒber das Jahr 1812 sprechen die französischen Schriftsteller gern davon, daĂ es dem Kaiser Napoleon nicht entgangen sei, wie gefĂ€hrlich die groĂe Ausdehnung seiner Operationslinie war, daĂ er eine Schlacht gesucht habe, daĂ seine MarschĂ€lle ihm geraten hĂ€tten, bei Smolensk haltzumachen, und was dergleichen Behauptungen mehr sind, durch die bewiesen werden soll, daĂ man die GefĂ€hrlichkeit des Feldzuges schon damals erkannte; und mit noch gröĂerem Eifer reden die russischen Schriftsteller davon, daĂ gleich bei Beginn des Feldzuges der Plan eines Skythenkrieges bestanden habe, also der Plan, Napoleon in das Innere RuĂlands hineinzulocken, und der eine schreibt diesen Plan Pfuel zu, ein anderer irgendeinem Franzosen, ein dritter Tolly, ein vierter dem Kaiser Alexander selbst, wobei sie sich auf Memoiren, Projekte und Briefe berufen, in denen sich tatsĂ€chlich Hindeutungen auf diese Art der KriegfĂŒhrung finden. Aber alle diese Hindeutungen, aus denen man schlieĂen könnte, daĂ jemand auf französischer oder russischer Seite das spĂ€ter Geschehene vorausgesehen habe, werden jetzt nur deswegen hervorgeholt, weil die Ereignisse ihnen recht gegeben haben. WĂ€ren die Ereignisse nicht eingetreten, so wĂ€ren diese Hindeutungen vergessen, wie jetzt Tausende und Millionen von entgegengesetzten Hindeutungen und Voraussagungen vergessen sind, die damals in Umlauf waren, aber keine BestĂ€tigung fanden. Ăber den Ausgang eines jeden gröĂeren Ereignisses, das sich zu vollziehen im Begriff ist, gibt es immer so viele Voraussagungen, daĂ, es mag enden wie es will, sich immer Leute finden werden, die sagen können: »Ich habe schon damals gesagt, daĂ es so kommen werde«, wobei dann ganz vergessen wird, daĂ unter den zahllosen Voraussagungen sich auch solche völlig entgegengesetzten Inhaltes befunden haben.
Die Annahme, Napoleon habe die Gefahr, die in der groĂen Ausdehnung seiner Operationslinie lag, erkannt, und die Russen ihrerseits hĂ€tten den Feind absichtlich in das Innere RuĂlands hineingelockt, diese Annahme gehört augenscheinlich zu dieser Kategorie, und nur mit groĂer Gewaltsamkeit können die Geschichtsschreiber dem Kaiser Napoleon solche ErwĂ€gungen und den russischen HeerfĂŒhrern solche PlĂ€ne zuschreiben. Alle Tatsachen widersprechen einer solchen Annahme durchaus. Auf seiten der Russen bestand nicht nur wĂ€hrend des ganzen Verlaufes des Krieges kein Wunsch, die Franzosen in das Innere RuĂlands hineinzulocken, sondern sie haben im Gegenteil alles getan, um die Feinde bei ihrem ersten Eindringen in RuĂland aufzuhalten; und Napoleon fĂŒrchtete nicht nur keine ĂŒblen Folgen von der groĂen Ausdehnung seiner Operationslinie, sondern freute sich vielmehr ĂŒber jeden Schritt, den er vorwĂ€rts tat, wie ĂŒber einen Triumph und suchte, abweichend von seiner Praxis in seinen frĂŒheren FeldzĂŒgen, nur mit sehr geringem Eifer eine Schlacht.
Ganz zu Anfang des Feldzuges waren unsere Heere getrennt, und das einzige Ziel, nach dem wir strebten, bestand darin, sie zu vereinigen, obgleich doch, wenn der Plan war sich zurĂŒckzuziehen und den Feind in das Innere des Landes zu locken, die Vereinigung der Heere dafĂŒr keinen Vorteil brachte. Kaiser Alexander befand sich bei der Armee, um sie zur Verteidigung jedes FuĂbreites russischen Landes zu begeistern, nicht etwa um einen RĂŒckzug zu leiten. Nach Pfuels Plan wurde ein gewaltiges Lager an der Drissa eingerichtet und ein weiterer RĂŒckzug nicht in Aussicht genommen. Wegen eines jeden Schrittes nach rĂŒckwĂ€rts machte der Kaiser dem Oberkommandierenden VorwĂŒrfe. Nicht nur der Brand von Moskau, sondern auch schon, daĂ man den Feind bis Smolensk kommen lieĂ, erschien dem Kaiser ganz unfaĂbar, und da die Armeen nun vereinigt waren, zeigte er sich sehr aufgebracht darĂŒber, daĂ Smolensk eingeĂ€schert und dem Feind ĂŒberlassen und nicht vor seinen Mauern eine Hauptschlacht geliefert worden war.
So dachte der Kaiser; die russischen HeerfĂŒhrer aber und alle Russen waren noch unzufriedener darĂŒber, daĂ die Unsrigen in das Innere des Landes zurĂŒckwichen.
Nachdem Napoleon unsere Heere getrennt hatte, rĂŒckte er in das Innere des Landes vor und lieĂ mehrere Gelegenheiten, eine Schlacht zu liefern, unbenutzt. Im August war er in Smolensk und hatte keinen andern Gedanken, als weiter vorzudringen, obwohl, wie wir jetzt wissen, dieses VorrĂŒcken fĂŒr ihn zweifellos verderblich war.
Die Tatsachen zeigen mit völliger Klarheit, daĂ weder Napoleon in dem Marsch nach Moskau eine Gefahr vorhersah, noch Alexander und die russischen HeerfĂŒhrer damals an ein Hereinlocken Napoleons dachten, sondern vielmehr das gerade Gegenteil erstrebten. Wenn Napoleon immer tiefer ins Land hineinzog, so wurde das nicht durch irgendeinen Verlockungsplan herbeigefĂŒhrt (an die Möglichkeit eines solchen glaubte ĂŒberhaupt niemand), sondern es war das Resultat des sehr komplizierten Zusammenwirkens von allerlei Intrigen, Absichten und WĂŒnschen der am Krieg Beteiligten, die nicht ahnten, was nach dem Willen der Vorsehung geschehen sollte und was die einzige Rettung RuĂlands war. Alles nahm einen unerwarteten Gang. Am Anfang des Feldzuges waren unsere Heere getrennt. Wir bemĂŒhten uns, sie zu vereinigen, in der offenbaren Absicht, eine Schlacht zu liefern und den Vormarsch des Feindes aufzuhalten; aber indem wir bei diesem Streben nach Vereinigung eine Schlacht mit dem stĂ€rkeren Feind vermieden und unwillkĂŒrlich im spitzen Winkel zurĂŒckgingen, fĂŒhrten wir die Franzosen bis Smolensk. Aber nicht genug damit, daĂ wir im spitzen Winkel zurĂŒckgingen, weil die Franzosen zwischen unsern beiden Armeen vordrangen: dieser Winkel wurde auch noch spitzer, und wir zogen noch weiter weg, weil Barclay de Tolly, ein unpopulĂ€rer Deutscher, von Bagration, der unter sein Kommando treten sollte, gehaĂt wurde, und weil Bagration, der die zweite Armee befehligte, sich bemĂŒhte, die Vereinigung mit Barclay möglichst lange hinauszuschieben, um sich nicht unter dessen Oberbefehl stellen zu mĂŒssen. Bagration hielt die Vereinigung, obwohl alle leitenden Persönlichkeiten in ihr das Hauptziel sahen, lange Zeit hin, weil er nach seiner Angabe der Ansicht war, er werde auf diesem Marsch sein Heer in Gefahr bringen, und es sei fĂŒr ihn das Vorteilhafteste, mehr links und mehr sĂŒdwĂ€rts auszuweichen, da er dabei den Feind in der Flanke und im RĂŒcken beunruhigen und seine eigene Armee in der Ukraine komplettieren könne. Indessen scheint er diese BegrĂŒndung nur ersonnen zu haben, weil er keine Lust hatte, sich dem verhaĂten und im Dienstrang ihm nachstehenden Deutschen Barclay unterzuordnen.
Der Kaiser befand sich beim Heer, um dieses zu begeistern; aber seine Anwesenheit und seine UnschlĂŒssigkeit und die enorme Menge von Ratgebern und PlĂ€nen beraubten die erste Armee aller Tatkraft, und die Armee ging zurĂŒck.
Es war nun die Absicht, in dem Lager an der Drissa stehenzubleiben; aber unerwarteterweise gelang es dem energischen Paulucci, der selbst gern ein Oberkommando gehabt hĂ€tte, den Kaiser Alexander umzustimmen; Pfuels ganzer Plan wurde verworfen und die Oberleitung Barclay ĂŒbertragen. Aber da Barclay doch kein rechtes Vertrauen einflöĂte, so beschrĂ€nkte man seine Macht. Die Heere wurden zerstĂŒckelt; es mangelte an einer einheitlichen Leitung; Barclay war unpopulĂ€r; aber aus diesem Wirrwarr, der ZerstĂŒckelung der Heere und der UnpopularitĂ€t des deutschen Oberkommandierenden, ergaben sich zwei Folgen: erstens wurde man zaghaft und suchte eine Schlacht zu vermeiden, der man nicht hĂ€tte aus dem Weg zu gehen brauchen, wenn die Armeen vereint gewesen wĂ€ren und ein anderer als Barclay das Kommando gehabt hĂ€tte; und zweitens wuchs die MiĂstimmung gegen die Deutschen immer mehr und mehr, und der patriotische Geist regte sich immer krĂ€ftiger.
Endlich verlieĂ der Kaiser die Armee, und als einzigen und plausibelsten Vorwand fĂŒr sein Fortgehen wĂ€hlte man den Gedanken aus, er mĂŒsse das Volk in den HauptstĂ€dten dazu begeistern, den Volkskrieg zu beginnen. Und diese Reise des Kaisers nach Moskau verdreifachte die Kraft des russischen Heeres.
Der Kaiser verlieĂ die Armee, um den Oberkommandierenden nicht mehr im Alleinbesitz der Macht zu beschrĂ€nken, und hoffte, daĂ dieser nun entscheidendere MaĂnahmen ergreifen werde; aber die Situation des Oberkommandierenden wurde nur noch verwickelter und seine Macht noch geringer. Bennigsen, der GroĂfĂŒrst und ein Schwarm von Generaladjutanten blieben bei der Armee, um alle Schritte des Oberkommandierenden zu beobachten und ihn zu energischem Handeln anzutreiben, und Barclay, der sich unter der Aufsicht aller dieser »Augen des Kaisers« noch unfreier fĂŒhlte als vorher, wurde noch vorsichtiger, wo es sich um entscheidende Schritte handelte, und vermied eine Schlacht.
Barclay war fĂŒr Vorsicht. Der Thronfolger machte Anspielungen, es sei wohl Verrat im Spiele, und verlangte eine Hauptschlacht. Lubomirski, Bronnizki, Wlozki und andere von derselben Art brachten diesen ganzen Spektakel auf eine solche Höhe, daĂ Barclay unter dem Vorwand, es mĂŒĂten dem Kaiser Papiere ĂŒberbracht werden, die polnischen Generaladjutanten nach Petersburg schickte und mit Bennigsen und dem GroĂfĂŒrsten in offene Fehde trat.
Bei Smolensk vereinigten sich endlich die beiden Heere, so wenig es auch Bagration gewĂŒnscht hatte.
Bagration fuhr in einer Equipage bei dem Haus vor, in welchem Barclay wohnte. Barclay legte seine SchĂ€rpe an, kam ihm entgegen und stattete ihm, als dem Ă€lteren im Rang, Rapport ab. Bagration stellte sich trotz seines höheren Ranges in einem Wettstreit der Hochherzigkeit unter Barclays Befehl; aber obwohl er das getan hatte, vertrug er sich mit ihm noch weniger als frĂŒher. Auf Befehl des Kaisers erstattete Bagration diesem persönlich Bericht. Er schrieb an Araktschejew: »Möge der Kaiser es mir nicht ĂŒbelnehmen; aber ich kann mit dem Minister« (er meinte Barclay) »schlechterdings nicht zusammen dienen. Ich bitte Sie um alles in der Welt, schicken Sie mich irgendwohin, meinetwegen nur als Regimentskommandeur; aber hier kann ich nicht bleiben. Auch wimmelt das ganze Hauptquartier von Deutschen, so daĂ ein Russe da nicht leben kann und auch nichts VernĂŒnftiges auszurichten vermag. Ich habe gemeint, ich könnte hier ehrlich dem Kaiser und dem Vaterland dienen; aber bei Licht besehen stellt sich heraus, daĂ ich Barclay diene. Ich muĂ gestehen, daĂ ich dazu k...