XXV.
Von der Mystik
Unser Leben ist nur denkbar im Verkehr und Zusammenwirken der einzelnen, und dennoch ist jedes einzelne Ich dem anderen ein unenthĂŒllbares Geheimnis. Eine triviale Wahrheit und zugleich ein unerschöpflicher Quell von RĂ€tseln! Wir leben unter Gesetzen, die unser Schicksal bestimmen, aber was wir erleben, erfĂ€hrt doch keines Menschen Seele auĂer der eigenen. Unser Ich ist eine uneinnehmbare Burg, in deren tiefstem Gemache wir sicher sind vor jedem neugierigen Auge. Wir vernehmen wohl, was um die Mauern tobt, und wir mĂŒssen, wenn's not tut, von den Zinnen herab die Verhandlungen fĂŒhren mit Freund und Feind. Aber im Innern bleiben wir die Herren; wir geben das Gesetz unserer Handlungen â das nennt man Charakter; und was uns hineingeworfen wird in unsere Burg, formen wir zu unserer eigenen Welt â das nennt man Phantasie. Diese innere Herrschaft in Wille und GefĂŒhl ist das heilige Erbe des Menschen, und der Name Freiheit bezeichnet sie als das köstlichste der GĂŒter.
Aber dieselbe Schranke, die das einzelne Ich vor jedem unberechtigten Eingriff in sein innerstes Leben und sein unverletzbares Geheimnis schĂŒtzt, bannt es auch in den Kreis, der ihm gegeben ist. Wer hĂ€tte nicht schon einmal den Wunsch gehabt, einem andern ins Herz zu schauen, sein Denken und FĂŒhlen ganz zu erfahren? So peinlich der Gedanke ist, es könnte jemand gelingen, das innerste Heiligtum unseres Lebens gegen unsern Willen zu schauen oder zu beeinflussen, so erklĂ€rlich ist doch der Wunsch, unsere Erkenntnis in dieser Hinsicht zu erweitern. Daher hat man von jeher nach Mitteln gesucht, das Innere des Nebenmenschen zu enthĂŒllen, obwohl man sich sagen darf, daĂ in dem Augenblick, in welchem meine Vorstellung oder mein GefĂŒhl in das BewuĂtsein eines anderen tritt, sie ihre Innerlichkeit verliert und durch die fremde Wahrnehmung einen anderen Charakter annehmen muĂ. Es fragt sich, wie kann man ĂŒberhaupt die Zustande eines anderen Ich, die VorgĂ€nge im BewuĂtsein eines zweiten Menschen in Erfahrung bringen? Hierauf gibt es nur eine Antwort.
Was ich nicht selbst erlebe, also das Ich meines Nebenmenschen, ist fĂŒr mich ein ĂuĂeres. Dieser Gegensatz von Innerem und ĂuĂerem hat aber keinen anderen Sinn, als die Trennung durch den Raum, indem wir uns als Körper gegenĂŒber von anderen Körpern wahrnehmen. Wer Raum ist das Mittel, Dinge als getrennte und verschiedene zu erfahren. DaĂ die Menschen Körper von rĂ€umlicher Verschiedenheit haben, und daĂ es verschiedene, getrennte, individuelle Ich gibt, ist der Ausdruck ein und derselben Tatsache. Das eine ist so gewiĂ wie das andere. Eine Vermittelung zwischen Mensch und Mensch kann daher nur im Raume, d.h. nur von Körper zu Körper stattfinden. Vermittelung im Raume aber ist bloĂ denkbar als Ăbertragung von Energie von einer Stelle zur andern. Es ist daher ein Grundsatz aller Erkenntnis, daĂ der Verkehr zwischen bewuĂten Wesen allein durch Energieaustausch im Raume stattfindet, und wir mĂŒssen einen, solchen selbst dort voraussetzen, wo wir die Art, wie er zustande kommt, noch nicht zu entdecken vermöchten. Wenn man von einer Fernwirkung der Geister spricht, so kann dies nur den Sinn haben, daĂ die Natur des ĂŒbertragenden materiellen Mittels noch nicht erkannt ist. Wer etwas anderes behauptet und von einer immateriellen »Telepathie« glaubt sprechen zu dĂŒrfen, der bedenkt nicht, daĂ er damit die Möglichkeit der Erfahrung verschiedener Wesen ĂŒberhaupt aufhebt. Denn die Bedingung dafĂŒr ist eben der Raum.
Das Mittel, wodurch wir rĂ€umliche Bewegungen oder, allgemeiner ausgedrĂŒckt, EnergieĂ€nderungen wahrnehmen, nennen wir unsere Sinne. DaĂ wir nur durch die Sinne mit anderen verkehren können, ist einerseits der Schutz fĂŒr die SelbstĂ€ndigkeit und Abgeschlossenheit unseres Ich, andererseits aber die hemmende Schranke, ĂŒber unser eigenes Ich hinauszugehen. Wir sind Körper, so möchten wir lieber sagen, als wir haben einen Körper. Denn letzteres erweckt die Vorstellung, als wenn das Einzel-Ich noch irgendwie auĂer seinem Körper bestĂ€nde, als wenn der Geist und der Körper trennbare Substanzen wĂ€ren. Nein! Wir sprechen vom Geiste des Menschen, insofern wir uns als bewuĂte Wesen empfinden und fĂŒhlen, vom Körper, insofern andere unsere Existenz wahrnehmen. Beides bedeutet aber nicht zwei verschiedene Dinge, sondern ein und dasselbe; das eine Mal nur fĂŒr mich selbst, wie ich mich erlebe; das andere Mal fĂŒr die anderen, wie sie mich als Gegenstand ihrer Sinne erkennen (s. S. 92 ff.).
Indem wir uns selbst als Teil der Welt betrachten, nehmen wir uns als Körper wahr; indem wir aber zugleich in uns die FĂŒlle der Welt erleben, empfinden wir unseren Körper als eine Schranke, die uns von der Welt trennt, obwohl sie die Bedingung dazu ist, daĂ wir zur Welt als ein Teil gehören. Im GefĂŒhle dieses Gegensatzes sind wir geneigt zu glauben, daĂ, könnten wir nur diese Schranke des Körpers brechen, unser Ich dann erst in voller Freiheit sich entfalten wĂŒrde. Ein verhĂ€ngnisvoller Irrtum! Denn â mit unserem Körper wĂŒrden wir nicht eine Schranke, sondern die Bedingung unseres Seins wegnehmen. Aber die TĂ€uschung bleibt und mit ihr der Wunsch, mehr zu sein, als dem Menschen möglich ist. Wir möchten die BeschrĂ€nkung aufheben, daĂ wir als Körper an eine bestimmte Stelle des Raumes und der Zeit gebunden sind. Wer hĂ€tte nicht schon gewĂŒnscht, das Leben einer lĂ€ngst vergangenen Zeit oder eines entfernten Volkes oder einer spĂ€ten Zukunft aus eigener Anschauung kennen zu lernen? Wer hĂ€tte nicht schon gewĂŒnscht, wĂ€hrend er an Ort und BeschĂ€ftigung gebunden ist, gleichzeitig an einer anderen Stelle des Raumes am Leben teilzunehmen? Ja, wenn man sich verdoppeln könnte! Der Reiz des Wunsches nach UnabhĂ€ngigkeit vom Raum und die Sehnsucht nach Erweiterung unseres beschrĂ€nkten Daseins haben seit jeher zu der Vorstellung gefĂŒhrt, daĂ eine Verdoppelung des Lebens und des Leibes fĂŒr den einzelnen möglich sei.
Dazu kommt ein verfĂŒhrerischer SchluĂ fĂŒr das naive BewuĂtsein, der eine derartige Trennung des Menschen in zwei Personen wahrscheinlich macht. Der verstorbene Freund, die in der Ferne weilende Geliebte erscheinen uns im Traume; sie handeln wie lebende Personen, und doch wissen wir, daĂ ihr Leib zerfallen ist oder ferne im Schlummer ruht. Der kindliche Glaube nimmt das Spiel der Phantasie fĂŒr Wirklichkeit; die Traumerscheinung ist ihm der vom Körper abgelöste Geist, der aber seltsamer Weise wieder als Körper erscheint. Hat vielleicht der Geist noch einen zweiten, Ă€therischen Körper zur VerfĂŒgung, der unabhĂ€ngig vom RĂ€ume in die Ferne dringen kann?
Es gibt nun noch eine Reihe anderer Erscheinungen, die sich nicht so leicht durch die bloĂe Traumphantasie erklĂ€ren lassen und fĂŒr die Absonderung eines »geistigen« Leibes vom irdischen zu sprechen scheinen. Es sind dies zunĂ€chst alle diejenigen FĂ€lle, wo Personen wĂ€hrend des Traumes oder im somnambulen Zustande und bei kataleptischen AnfĂ€llen wirkliche Reisen und Wahrnehmungen in der Ferne erlebt zu haben glaubten und Angaben darĂŒber machten, die sich spĂ€terhin bestĂ€tigten. Ferner aber die hĂ€ufigen Beobachtungen, daĂ Menschen plötzlich an einem entfernten Orte von anderen gesehen wurden, wĂ€hrend sie nachweislich mit ihrem sinnlichen Körper nicht dort waren. Hier ĂŒberwiegen freilich die FĂ€lle, in denen nur ein einzelner den »DoppelgĂ€nger« oder »Geist« sieht und die ĂŒbrigen, die sich in der NĂ€he befinden, durchaus nichts wahrnehmen können. Der Zweifler wird also hier mit Recht nur eine Halluzination, eine subjektive SinnestĂ€uschung annehmen. Aber es bleiben immer noch eine ganze Reihe von FĂ€llen ĂŒbrig, in denen die Erscheinung des DoppelgĂ€ngers gleichzeitig von mehreren glaubwĂŒrdigen Zeugen angeblich gesehen worden ist. Namentlich ist es lebhafte Sehnsucht, die den DoppelgĂ€nger an den Ort treiben soll, wohin der wirkliche Leib nicht gelangen konnte, und besonders die NĂ€he des Todes disponiert zu derartigen Wanderungen. Wir wollen den Leser mit der Flut dieser Geschichten nicht aufhalten; es kommt auch nicht darauf an, daĂ wir sie glauben, sondern nur auf die Tatsache, daĂ sie von vielen Menschen geglaubt und fĂŒr unleugbar gehalten werden. Alle diese mystischen Erscheinungen wĂŒrden sich sehr hĂŒbsch erklĂ€ren lassen, wenn man annehmen dĂŒrfte, daĂ der Mensch in seinem leiblichen noch einen Ă€therischen Körper besĂ€Ăe, der den Gesetzen der schweren Materie nicht unterworfen ist und daher unter UmstĂ€nden sich abtrennen und unabhĂ€ngig vom Leibe auftreten kann. Ganz besonders verlockend fĂŒr manche GemĂŒtsrichtungen ist dabei die bequeme Lösung der Unsterblichkeitsfrage, da ja die Seele des Menschen nur an jenen Ătherleib gebunden zu sein braucht, um vom Tode des irdischen Zellenleibes unberĂŒhrt zu bleiben. Deshalb ergreift der Spiritismus diese Theorie mit Vorliebe; es hat nun gar keine Schwierigkeit zu verstehen, wieso die Geister Verstorbener erscheinen und zitiert werden können, warum Gespenster bei vergrabenen SchĂ€tzen und in anderen unheimlichen Gegenden umgehen und von begnadigten Medien geschaut werden, wie ĂŒberhaupt aller Geisterspuk und alles Zauberwesen, das bei Aberglauben aller Zeiten je ausgeheckt, fĂŒr solche GlĂ€ubige durchaus der Wahrheit und Wirklichkeit entsprechen.
Der Glaube an einen Ăther- oder Astralleib ist freilich schon sehr alt, und man kann ihn vom Altertum her durch alle Mystologien verfolgen. Von Zeit zu Zeit tritt er ĂŒber in einer Form auf, die den Anspruch erhebt, wissenschaftlich begrĂŒndet genannt zu werden und zu ernsthaft gemeinten ErklĂ€rungen und Forschungen beizutragen. Es verlohnt sich daher, diese Phantastik einmal anzusehen und den MiĂbrauch willkĂŒrlicher Hypothesenbildung aufzudecken.
Wir sind rings umgeben von so zahllosen Aufgaben, deren Lösung die Wissenschaft noch nicht gewachsen ist, daĂ jedem Menschen mit Phantasie lustige Hypothesen entgegenflattern, â es wĂ€re ganz hĂŒbsch, wenn sich die Sache vielleicht so oder so verhielte! Aber der methodische Forscher muĂ wissen, was nach wissenschaftlichen GrundsĂ€tzen sich in die Kausalreihe des objektiven Geschehens einfĂŒgen lĂ€Ăt, und was ihm nur zur subjektiven Befriedigung seines GemĂŒts dienen darf, weil es lediglich als Dichtung Berechtigung besitzt. Es gibt indessen Leute, mit lebhaftem Geiste, die das Geheimnis, das jenseits der Grenzen der Erkenntnis liegt, besonders lockt und zur Entschleierung anreizt. Kommt nun dazu, daĂ diese Leute Zeit besitzen, sehr viel zu lesen und in ihrer Weise zu verarbeiten, daĂ ein Mangel an methodischer Schulung des Denkens die feineren WidersprĂŒche ihnen verhĂŒllt, die aus der unkritischen Auswahl ihrer Quellen folgen, daĂ schlieĂlich ihre rege Phantasie ihnen gestattet, sich irgend eine beliebige Möglichkeit als Wirklichkeit auszumalen, so sind sie imstande, jeden phantastischen Einfall zu einem System aufzubauschen. FĂŒhren solche Leute noch dazu eine gewandte Feder, so sind sie nicht ohne Gefahr fĂŒr die Entwickelung des Bildungszustandes. Denn populĂ€rer wird immer derjenige sein, der die Neugier befriedigt und dem Fragenden eine Antwort erteilt, als wer die Antwort verweigert, weil er weiĂ, daĂ es keine gibt, daĂ die Frage selbst unstatthaft ist.
Unter den vielfachen Versuchen, den Mystizismus durch eine Theorie zu stĂŒtzen, zeichnen sich die Schriften von Carl du Prel durch Reichhaltigkeit an Hypothesen und den Schein einer wissenschaftlichen Form aus. In seiner »Philosophie der Mystik« (1885) beabsichtigte der Autor eine sogenannte Transcendentalpsychologie zu schaffen, die zugleich dem Materialismus den Boden abgraben sollte. Freilich â die materialistische Weltanschauung durch den Mystizismus ablösen zu wollen, heiĂt nicht viel anderes, als den Teufel durch Beelzebub austreiben. Handelte es sich nur darum, »MĂ€rchen aus dem Schlaraffenlande der Metaphysik« zu erzĂ€hlen, so könnte man die Phantasien der Occultisten einfach als Geschmackssache bezeichnen und die Toleranz ĂŒben, die jede GemĂŒtsstimmung beanspruchen darf, ob sie sich nun in dem Glauben an die Mechanik des sittlichen Willens oder an das Reich jenseitiger Geister Wohl fĂŒhlt. Anders aber liegt die Sache, wenn der Autor den Anspruch erhebt, als Vertreter ernster Wissenschaft angesehen zu werden, wenn er sich auf Kant und Darwin beruft und seine metaphysischen Erfindungen als Resultate theoretischer Forschung ausgibt. Alsdann entsteht die Forderung, die angebotene Ware auf ihre Echtheit zu PrĂŒfen, ob nicht die gute Firma »Immanuel Kant«, unter der sie angepriesen wird, zu Unrecht auf ein untergeschobenes Produkt gesetzt ist; denn es liegt die Gefahr nahe, daĂ nicht nur das sachkundige Publikum und der Ruf der gemiĂbrauchten Firma Schaden erleiden, sondern auch die RealitĂ€t des Handelsverkehrs, das heiĂt die GrĂŒndlich, keit deutscher Wissenschaft.
Das menschliche Individuum, das Subjekt, erfreut sich nach der Ansicht des Mystikers zweier Personen, einer sinnlichen und einer »transcendentalen«, die sich aber durch die Formen ihres BewuĂtsein unterscheiden und daher gar nichts von einander wissen. Die sinnliche Person sind wir als irdischer Normalmensch im wachen Zustande, die transcendentale bildet mit den unbewuĂten Teilen der ĂŒbrigen Individuen ein groĂes Geisterreich, aus dem sie nur auf Zeit und zum Teil in das sinnliche BewuĂtsein hinabtaucht. So erklĂ€rt sich Seelenwanderung, PrĂ€existenz, Leben, Tod und Unsterblichkeit. Das transzendentale Subjekt inkarniert sich hier und da bei der Geburt zum Zwecke der Selbsterziehung und beerbt beim Tode wieder seine sinnliche Person. Doch soll uns in das transcendentale Reich auch schon wĂ€hrend unseres Lebens unter UmstĂ€nden ein Einblick gestattet sein, nĂ€mlich im Traume, besonders im Somnambulismus. Dann rĂŒckt die Grenze unseres BewuĂtseins weiter vor, und unsere Sinnlichkeit gewinnt neue FakultĂ€ten, wir können Krankheiten kurieren, hellsehen u.s.w. Diese Eigenschaften, bei denen ein StĂŒck von der »transcendentalen Person« zum Vorschein kommt, sind heutzutage leider noch selten, aber sie deuten auf eine EntwickelungsfĂ€higkeit der Gattung hin. Der biologische ProzeĂ des Universums, â der auf anderen Planeten vermutlich noch starker vorgeschritten ist als bei uns â besteht nĂ€mlich in einer immer weiteren Ausdehnung der BewuĂtseinsschwelle, so daĂ die einzelnen Individuen immer gröĂere Teile ihrer transcendentalen Personen sich aneignen. Es wĂ€re gut, wenn man hiebei ĂŒber den Widerspruch aufgeklĂ€rt wĂŒrde, der fĂŒr unser kurzes »Erdgesicht« jedenfalls in der Vereinigung der beiden entgegengesetzten Tatsachen besteht, daĂ die pathologische Erscheinung des Somnambulismus auf einer teilweisen SelbstĂ€ndigkeit der nervösen Zentren, der biologische Fortschritt des BewuĂtseins dagegen auf der immer gröĂeren AbhĂ€ngigkeit der letzteren vom zerebralen Zentralorgan beruht. Freilich hĂ€lt der Mystiker von Physiologie nicht viel. DaĂ er statt der Vivisektion den Somnambulismus als Forschungsmethode empfiehlt, charakterisiert diese Richtung des Denkens ebenso, wie es andererseits die WillkĂŒrlichkeit und Kritiklosigkeit der herbeigezogenen GrĂŒnde und Quellen ĂŒberflĂŒssig macht, sie ernst zu nehmen. »Denn, so sagt Kant, »metaphysische Hypothesen haben eine so ungemeine Biegsamkeit an sich, daĂ man sehr ungeschickt sein mĂŒĂte, wenn man die gegenwĂ€rtige nicht einer jeden ErzĂ€hlung bequemen könnte, sogar ehe man ihre Wahrhaftigkeit untersucht hat, welches in vielen FĂ€llen unmöglich und in noch mehreren sehr unhöflich ist.« Wir wollen vielmehr die Haltlosigkeit des »metaphysischen Individualismus« dadurch zeigen, daĂ wir die unzulĂ€ssige Art seiner BegrĂŒndung aufzudecken suchen und insbesondere im Interesse eines besonnenen und kritischen Idealismus-Protest dagegen erheben, daĂ diese mystische Metaphysik sich auf Kant berufe.
Der Mystiker liebt folgenden Gedankengang. Kant hat bewiesen, daĂ wir Grund haben, ein »intelligibles« oder »transcendentales« Ich anzunehmen. Die Psychophysik lehrt, daĂ es eine BewuĂtseinsschwelle gibt, welche die bis zum BewuĂtsein kommenden Reize von denjenigen trennt, die zur Erregung einer bewuĂten Empfindung nicht stark, genug sind. Ferner besteht das Subjekt nicht bloĂ aus dem Zusammenhang der zur Zeit im BewuĂtsein vorhandenen Vorstellungen, sondern auch noch aus einer unabsehbaren Reihe disponibler, zur Zeit noch unbewuĂter ZustĂ€nde. Im Traume und namentlich im Somnambulismus treten Erscheinungen auf, die im wachen Zustande nicht bemerkt werden, weil die StĂ€rke der Ă€uĂeren Sinnesreize sie ĂŒbertĂ€ubt, wie die Sonne das Licht der Sterne unwahrnehmbar macht. Endlich weist die biologische Entwicklungstheorie eine allmĂ€hliche Erweiterung des Bezirks der Sinnesempfindung auf. Diese einzelnen Tatsachen können nicht bestritten werden. Folglich brauchen wir sie bloĂ zu »addieren«, und die Philosophie der Mystik ist fertig! Kants »transcendentales« Ich ist durch die »Schwelle des BewuĂtseins« vom sinnlichen BewuĂtsein getrennt; diese Schwelle wird im Somnambulismus und in der biogenetischen Entwicklung verschoben, so daĂ sich das BewuĂtsein auch auf die disponiblen, noch nicht bewuĂten Vorstellungen erstreckt. Diesen kommt ein eigenes BewuĂtsein zu, und das ist das »transcendentale« Ich Kants, das demnach der Erfahrung zugĂ€nglich ist.
In dieser SchluĂfolge jagt eine Verwechselung die andere. Der erkenntnistheoretische Begriff des Transcendentalen wird zusammengeworfen mit dem psychophysischen Begriff der Reizschwelle, und dieser mit dem psychologischen Begriff der nicht im Blickfelde des BewuĂtseins befindlichen Vorstellungen. Das Reich von Geschehnissen, die den Erfahrungsinhalt des Ich ausmachen, aber nur zum kleinsten Teile in jedem Augenblicke der Einheit des BewuĂtseins zur VerfĂŒgung stehen, ist etwas ganz anderes, als jener unerkennbare Grund der Einheit des BewuĂtseins, den Kant das transcendentale Ich nannte. Jene potenziellen BewuĂtseinszustĂ€nde sind durchaus empirischer Natur; hier werden sie fĂŒr transcendental erklĂ€rt, und dann wird behauptet, dieses transcendentale Gebiet sei der Erfahrung zugĂ€nglich. Das heiĂt also Addition! Zehn Mark und zwanzig Grad WĂ€rme geben dreiĂig Liter. Um diese ZusammenwĂŒrfelung der Begriffe deutlich zu machen, diene folgende SchluĂweise, die der mystosophischen genau nachgebildet ist; der Fehler tritt sofort hervor, weil die unzulĂ€ssige Vertauschung geographischer und thermischer Begriffe ins Auge fĂ€llt, wĂ€hrend die Vermischung von Erkenntniskritik und Psychologie sehr leicht ĂŒbersehen wird.
Es gibt eine unzugĂ€ngliche Polarregion der Erde. In der WĂ€rmelehre unterscheidet man Temperaturen oberhalb und unterhalb des Gefrierpunktes des Wassers. Wenn die Temperatur unter den Nullpunkt sinkt, wird das Wasser fest. Im Winter gefrieren FlĂŒsse. Die Planeten kĂŒhlen sich allmĂ€hlich ab. Das sind unbestreitbare Tatsachen; vollziehen wir die »Addition!« Der Gefrierpunkt trennt die Polarregion von der gemĂ€Ăigten Zone, der Nordpol ist gefrorenes Wasser, im Winter gefriert es, also erreichen wir dann den Nordpol! Wer diese Addition nicht zugeben will, ist ein böswilliger oder verstĂ€ndnisloser Zweifler!
Als Kant durch seine Kritik des Erkennens die Grenzen der Erfahrung auf das Gebiet der Sinnlichkeit und des Verstandes einschrĂ€nkte, hoffte er der wĂŒsten metaphysischen Spekulation ein fĂŒr allemal den Boden entzogen zu haben. Und nun beruft sich die Mystologie auf diesen selben Kant! Um diese UnrechtmĂ€Ăigkeit dieser Berufung auch demjenigen deutlich zu machen, der mit der Transcendentalphilosophie weniger vertraut ist, wird es notwendig, mit einigen Worten darzulegen, was Kant unter dem »transcendentalen Ich« verstand.
Die Möglichkeit unserer Erfahrung beruht nach Kant darauf, daĂ der in Raum und Zeit gegebene Empfindungsinhalt in bestimmten gesetzmĂ€Ăigen Beziehungen zur Einheit des BewuĂtseins steht. Durch diese Beziehungen â die Kategorien â ist die selbstĂ€ndige Welt der Objekte mit dem Vorstellenden Subjekte bedingt, nicht so, als ob erst die Objekte da wĂ€ren, und nun das Subjekt hinzukĂ€me, um sie in sich aufzunehmen, auch nicht so, als ob ein ursprĂŒngliches Subjekt aus sich die Objekte erzeugte, sondern nur durch ihre Wechselbeziehung bestehen beide. Ein Ich gibt es nur, insoweit dieses Objekte zum Inhalt «eines BewuĂtseins hat, und Objekte nur, insofern sie einem Ich als Inhalt zugehören. Deshalb ist es eine unrichtige und in den Dogmatismus zurĂŒckfallende Annahme, daĂ es eine von unserm BewuĂtsein unabhĂ€ngige Welt jenseits desselben gebe, die wir unsern Sinnen anzupassen hĂ€tten. Wenn auch das Weltbild von der Beschaffenheit des wahrnehmenden Subjektes abhĂ€ngt, so darf man dies doch nicht so auffassen, als ob durch eine Weiterentwicklung unserer Organisation immer neue Teile des Transcendenten fĂŒr uns erkennbar wĂŒrden. Vielmehr entsteht die Erfahrungswelt erst zugleich mit den Formen des individuellen BewuĂtseins, beide entwickeln sich aneinander, und es gibt nur so viel Arten des Seins, als es TĂ€tigkeiten der auffassenden Subjekte gibt. Denn die Objekte sind gebunden an die Art und Weise, wie der Inhalt unseres BewuĂtseins auf seine Einheit bezogen ist; es kann z.B. nichts geschehen, was nicht nach Ursache und Wirkung zusammenhinge, weil die ursĂ€chliche VerknĂŒpfung zu jenen Bedingungen gehört, ohne welche Erkenntnis von Objekten nicht möglich ist. Demnach muĂ alles, was je in unsere Erfahrung treten soll, den Bedingungen dieser Erfahrung gemÀà sein; alles andre ist unmöglich. Innerhalb' dieses Erfahrungsgebietes herrscht die Gesetzlichkeit des Verstandes; jenseits derselben hat die Phantasie freies Feld sich zu tummeln, die Wissenschaft hört dort auf. DaĂ es wissenschaftliche Erkenntnis von etwas gĂ€be, was nicht ...