GefÀhrliche Illusionen
eBook - ePub

GefÀhrliche Illusionen

Denkt! FĂŒr die Vernunft in unvernĂŒnftigen Zeiten

Vitaly Malkin

Partager le livre
  1. 464 pages
  2. German
  3. ePUB (adapté aux mobiles)
  4. Disponible sur iOS et Android
eBook - ePub

GefÀhrliche Illusionen

Denkt! FĂŒr die Vernunft in unvernĂŒnftigen Zeiten

Vitaly Malkin

DĂ©tails du livre
Aperçu du livre
Table des matiĂšres
Citations

À propos de ce livre

Trotz wissenschaftlicher Erkenntnisse und technologischem Fortschritt riskiert die Weltgemeinschaft gerade eine völlige Umkehr, die unsere sĂ€kularen Werte und die Errungenschaften der AufklĂ€rung ausmerzen und uns wieder zurĂŒckwerfen kann. Wer wird die Zukunft regieren? Vernunft oder ChimĂ€ren? Wissen oder Glaube? GlĂŒck oder Leid? In aufklĂ€rerischer Tradition ruft Vitaly Malkin in diesem Buch dazu auf, die Fesseln zu sprengen, das Leben mit den scharfen Klingen der Vernunft freizuschneiden und nicht auf ferne Hoffnungen zu vertrauen. Der russische Autor und Philanthrop begibt sich dafĂŒr auf philosophische Spurensuche in die Katakomben der europĂ€ischen Kultur: als kĂŒhner Rationalist recherchiert er nach subtilen EinschrĂ€nkungen, psychologischen Machtsystemen und tĂ€uschenden ChimĂ€ren, die er in der abendlĂ€ndischen Geschichte und in den monotheistischen Religionen in Bildern und Texten ausfindig macht.In seinem kontroversen und polemischen Essay plĂ€diert Vitaly Malkin fĂŒr ein Leben als freier Geist. Er verteidigt die Vernunft und ruft seinen Lesern zu: "Denkt!"

Foire aux questions

Comment puis-je résilier mon abonnement ?
Il vous suffit de vous rendre dans la section compte dans paramĂštres et de cliquer sur « RĂ©silier l’abonnement ». C’est aussi simple que cela ! Une fois que vous aurez rĂ©siliĂ© votre abonnement, il restera actif pour le reste de la pĂ©riode pour laquelle vous avez payĂ©. DĂ©couvrez-en plus ici.
Puis-je / comment puis-je télécharger des livres ?
Pour le moment, tous nos livres en format ePub adaptĂ©s aux mobiles peuvent ĂȘtre tĂ©lĂ©chargĂ©s via l’application. La plupart de nos PDF sont Ă©galement disponibles en tĂ©lĂ©chargement et les autres seront tĂ©lĂ©chargeables trĂšs prochainement. DĂ©couvrez-en plus ici.
Quelle est la différence entre les formules tarifaires ?
Les deux abonnements vous donnent un accĂšs complet Ă  la bibliothĂšque et Ă  toutes les fonctionnalitĂ©s de Perlego. Les seules diffĂ©rences sont les tarifs ainsi que la pĂ©riode d’abonnement : avec l’abonnement annuel, vous Ă©conomiserez environ 30 % par rapport Ă  12 mois d’abonnement mensuel.
Qu’est-ce que Perlego ?
Nous sommes un service d’abonnement Ă  des ouvrages universitaires en ligne, oĂč vous pouvez accĂ©der Ă  toute une bibliothĂšque pour un prix infĂ©rieur Ă  celui d’un seul livre par mois. Avec plus d’un million de livres sur plus de 1 000 sujets, nous avons ce qu’il vous faut ! DĂ©couvrez-en plus ici.
Prenez-vous en charge la synthÚse vocale ?
Recherchez le symbole Écouter sur votre prochain livre pour voir si vous pouvez l’écouter. L’outil Écouter lit le texte Ă  haute voix pour vous, en surlignant le passage qui est en cours de lecture. Vous pouvez le mettre sur pause, l’accĂ©lĂ©rer ou le ralentir. DĂ©couvrez-en plus ici.
Est-ce que GefÀhrliche Illusionen est un PDF/ePUB en ligne ?
Oui, vous pouvez accĂ©der Ă  GefĂ€hrliche Illusionen par Vitaly Malkin en format PDF et/ou ePUB ainsi qu’à d’autres livres populaires dans Philosophy et Philosophy History & Theory. Nous disposons de plus d’un million d’ouvrages Ă  dĂ©couvrir dans notre catalogue.

Informations

Éditeur
Wolff Verlag
Année
2018
ISBN
9783941461260

KAPITEL VI

Der Àrgste
Feind Gottes

Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.
(MatthÀusevangelium 5, 28)
Alle LĂŒste sind die Feinde Gottes; die grĂ¶ĂŸte und begehrteste ist wohl die sexuelle. Dennoch wurde lange Zeit dieses Thema nicht angesprochen.
Vielleicht deswegen, weil Fernsehen, Kino und Publizistik bereits so voll von ihr sind, dass jeder Autor, der Ernsthaftigkeit beansprucht, unbewusst versucht, die Diskussion ĂŒber SexualitĂ€t irgendwohin weit weg zu schieben. Ich bin genauso. So habe ich „50 Shades of Grey“ sofort tief in eine Schublade mit alten Zeitungen gesteckt.
Durch des Schicksals FĂŒgung hat uns das Thema in das Land Kambodscha gefĂŒhrt, in dem AnhĂ€nger der monotheistischen Religionen circa zwei Prozent der Bevölkerung ausmachen, und die Zahl der Christen nur ein FĂŒnftel davon betrĂ€gt.

Eine unerwartete Begegnung
mit einem christlichen Missionar

Diese Begegnung fand wĂ€hrend des Besuchs von Angkor statt – das eine FlĂ€che von zweihundert Quadratkilometern und etwa fĂŒnfzig Tempel hat, mit dem grĂ¶ĂŸten sakralen Bauwerk in der Geschichte der religiösen Menschheit. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie viel dies alles gekostet hat. FĂŒr das Geld könnte man wohl fĂŒr jeden Kambodschaner ein goldenes Haus bauen!
Die Auswahl der ReisefĂŒhrer war nicht groß; am Ende entschieden wir uns fĂŒr eine sehr ungewöhnliche Person. Es stellte sich heraus, dass Alexander Koreaner war, der in der ehemaligen Sowjetunion geboren wurde und nach deren Zusammenbruch eine Zeitlang in China, SĂŒdkorea und Thailand wohnte und als KleinhĂ€ndler arbeitete. Wegen eines Ereignisses, ĂŒber das ich etwas spĂ€ter erzĂ€hlen werde, gab er seine Stellung auf und zog vor fĂŒnf Jahren nach Kambodscha um.
Eine FĂŒhrung durch den Tempel dauerte mehr als sechs Stunden, im Laufe deren uns Alexander pausenlos nicht nur die Geschichte der Erbauung Angkors, sondern auch eine Menge Details ĂŒber das Leben und Gewohnheiten seiner alten Einwohner erzĂ€hlte.
Wir begannen mit der riesigen Tempelanlage Angkor Wat, bewunderten Shiva gewidmete Basreliefs des Tempels Banteay Srei und staunten ĂŒber die ĂŒbernatĂŒrliche Schönheit des antiken Heiligtums Ta Prohm.
Alle waren sehr mĂŒde und wollten schnell ins Hotel rĂŒckkehren, jedoch erregte bei der Ausfahrt aus Angkor ein halbzerstörter Tempel unsere Aufmerksamkeit. Zum wunderschönen, halbruinierten Tempel fĂŒhrte ein langer und breiter Weg aus mehreren Reihen großer flacher Steinen, die von dunkelgrĂŒnem Moos ĂŒberwuchert waren.
Zu unserer Überraschung meinte unser ReisefĂŒhrer, dass es nicht nötig sei, einen weiteren „Haufen Steine“ zu besichtigen. So untersuchten wird den Tempel auf eigene Faust. Erst als wir zurĂŒckkamen, verriet uns Alexander, dass ihm all diese unreinen heidnischen Idole tief zuwider seien.
Er erklĂ€rte, dass er ein tief religiöses Mitglied der Pfingstgemeinde sei und in Kambodscha als Missionar lebe. Es sei nicht seine Schuld, dass die Khmer tote Steine ​​anbeteten und keinen wahren Gott kennen wĂŒrden. Zuerst wollte er nicht wirklich mit uns darĂŒber sprechen, aber nach ein paar Minuten GesprĂ€ch fĂŒhlte er unser echtes Interesse an ihm und taute auf. Kambodscha mit all seinen Problemen, den Khmer und Angkor waren völlig vergessen; wir fĂŒhrten stundenlange GesprĂ€che ĂŒber die spirituelle Transformation durch die Taufe, seine eigenen Reisen in die Hölle und ins Paradies und Heilung der Kranken.
Ich war sehr interessiert daran, wie Alexander zu seinem Glauben fand. Mit vierzig Jahren ĂŒberlebte er einen klinischen Tod. Sein Atem stoppte völlig, er begriff, dass er tot war, seine Seele verließ den Körper und stĂŒrzte in einen Tunnel, an dessen Ende ein gespenstisches Licht zu sehen war. WĂ€hrend seines Aufenthalts im Tunnel sah seine Seele klar alle wichtigen Episoden seines Lebens. Dann flog sie aus ihm heraus, stĂŒrmte zu den Sternen und spĂŒrte die Anwesenheit eines mĂ€chtigen Wesens. Trotz der Tatsache, dass Alexander zu diesem Zeitpunkt noch kein frommer Mensch war, begann seine Seele, Gott fĂŒr seine Rettung anzuflehen.
Es kam keine Antwort, aber es geschah ein Wunder: bald stĂŒrmte die Seele mit der Geschwindigkeit des Lichts von den Sternen zurĂŒck zur Erde. Seine Seele sah nun den zu ihr gehörenden, leblosen Körper und die daneben sitzende Krankenschwester, die verzweifelt versuchte, diesen Körper ins Leben zurĂŒckzubringen. Dann gab es eine lange Operation und vollstĂ€ndige Genesung.
Kurze Zeit spÀter hatte Alexander einen seltsamen Traum:
Er sah ein goldenes römisches Tor, durch das er eintrat, und vor ihm erschienen schöne MÀdchen, die ihn umringten. Plötzlich warf ihm sein Schwiegersohn, JÀger von Beruf, ein Gewehr zu und die MÀdchen verschwanden sofort. Als NÀchstes sah er einen riesigen Adler mit goldenen Federn und einem Medaillon auf der Brust, er flog von rechts nach links in Richtung des Tores.
Als der Adler sich in die Mitte des Tores setzte und seine mĂ€chtigen FlĂŒgel faltete, rief der Schwiegersohn zu Alexander: ,Schieß!‘ Alexander betĂ€tigte den Abzug und traf genau ins Gelbe des Medaillons. Der Adler flog vom Tor zu ihm, landete auf einen riesigen Felsblock und fragte ihn mit menschlicher Stimme: ,Möchtest du in Ehre und in hohem Ansehen leben?‘
Alexander verneinte und wachte auf. Von Furcht lief Alexander in die KĂŒche, wo er auf die Knie fiel und anfing, zu beten:
,Herr, vergib mir, ich habe Angst.‘ Dann hörte er erneut die Stimme des Adlers: ,Willst du das Gesicht Gottes sehen?‘ Er antwortete wieder: ,Nein, nein, ich habe Angst!‘ Denn er erinnerte sich gut daran, dass der Anfang der Weisheit die Furcht Gottes ist.
Erst nach etwa einem Jahr war Alexander in der Lage, diesen Traum zu deuten. Der Adler ist ein Engel, das Medaillon auf der Brust des Adlers ist die SĂŒnde des Ehebruchs, die MĂ€dchen sind seine sĂŒndigen Beziehungen zu Frauen. Und das Wunder geschah: Der Glaube an Jesus und Gebete befreiten ihn vom Joch seiner SĂŒnde, retteten ihn vor dem Grauen des Ehebruchs.
Dieser Traum half Alexander zu verstehen, dass der klinische Tod das Ergebnis seines unmoralischen Lebensstils war. Besonders zu schaffen machte ihm das Leben mit seiner dritten Frau, die er sehr liebte, und der es nicht gelang, ihn zu lieben. Schlimmer noch, nach seiner ErzĂ€hlung ĂŒber die Reise zu den Sternen verlangte sie, dass er in eine andere Wohnung umziehe. Sie wollte nicht auf den Zuspruch aus dem Jakobusbrief hören: „[...] Sondern ein jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust gereizt und gelockt wird. Darnach, wenn die Lust empfangen hat, gebiert sie die SĂŒnde; die SĂŒnde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert sie den Tod.“ (Jakobus 1,14-15).
Im Folgenden ĂŒberschĂŒtteten wir Alexander mit Fragen, die er lĂ€ngere Zeit nicht beantwortete, auf die er fast nie direkte Antworten gab – oft Ă€rgerte er sich offensichtlich. „Alexander, haben Sie eine Frau in Kambodscha?“
– „Nein.“
– „Dann lebt wahrscheinlich ihre Freundin mit Ihnen? Wir haben viel Gutes ĂŒber Kambodschanerinnen gehört, zum Beispiel dass sie treu, fĂŒrsorglich und glatthĂ€utig seien.“
– „Es gibt keine Freundin.“
– „Alle fĂŒnf Jahren?“
– „Ja.“
– „Aber wenn Sie keinen Sex haben, wie befriedigen Sie Ihr sexuelles Verlangen?“
– „Ich habe gar keine sexuelle Lust! In seinem Brief an die Kolosser sagt der Apostel Paulus deutlich, dass es notwendig sei, die irdischen Glieder abzutöten: Unzucht, Unreinheit, Leidenschaft, böse Begierde und die Habsucht... In Übereinstimmung mit dem Willen Gottes sollte man sein GefĂ€ĂŸ in Frömmigkeit und Ehren behalten, und nicht in Leidenschaften der Begierde, wie die Gott nicht kennenden Heiden!“
– „Aber das kann doch nicht sein! Sie sind ein gesunder Mann, Sie haben Zeugungsorgane – Hoden, die kontinuierlich Sperma erzeugen und Hormone im Blut –, die erfordern, dass dieses Sperma irgendwohin ausgegossen wird! Sind Sie nicht krank?“
– „Ich bin gesund! Und mit den Geschlechtsorganen und Sperma ist bei mir alles in Ordnung, aber ich habe kein sexuelles Verlangen. Gott hilft mir, es nicht zu haben. Der Apostel Paulus, in seinem Brief an die Korinther, sagt deutlich, dass der SĂŒnder an seinem eigenen Leib sĂŒndige, und der, der einer Hure anhĂ€nge, mit ihr ein Leib sei.“
– „Und wohin verschwindet Sperma in diesem Fall?“ – „Ich weiß nicht, wohin. Ich habe keine sexuelle Lust im Körper, und damit hat sich’s, weil es keine christliche Liebe zur Frau gibt. Ich fand noch nicht die Richtige. Aber ich habe den Wunsch und die Freude des Gebets. Auch hier werde ich Paulus zitieren: ,Der Leib aber ist nicht fĂŒr die Unzucht, sondern fĂŒr den Herrn, und der Herr fĂŒr den Leib.‘“ (1. Kor. 6,13)
– „Aber Sie wollen doch noch Kinder haben?“
– „Ich will! Sobald ich eine gute Frau finde, sie in der kirchlichen Tradition heirate, wird Gott mir sexuelles Verlangen wiedergeben. Denn vor der Ehe stammt es vom Teufel, und in der Ehe – von Gott.“
Das Interessanteste, was mir in der ErzĂ€hlung unseres ReisefĂŒhrers auffiel, war die Trennung der SexualitĂ€t vom Menschen: Es stellte sich heraus, dass man mit Hilfe Gottes SexualitĂ€t einfach „ausschalten“ und genauso einfach „einschalten“ kann. Wie Licht im Raum mit Hilfe eines Schalters. Wie haben die monotheistischen Religionen es geschafft, das Unmögliche zu tun: Den Menschen von einer seiner grundlegenden physiologischen Funktionen zu trennen?
Nach Alexanders ErzĂ€hlung und dem anschließenden Dialog verstanden wir, aus welchem Grund seine dritte Frau ihn aus der Wohnung verbannte. Jeder wĂŒrde in einer solchen Situation denken, dass nicht Alexander, sondern die Religion verrĂŒckt geworden sei. Obwohl Alexander ein guter Kerl ist, wird seine vierte Frau, wenn es sie geben wird, kein leichtes Spiel mit ihm haben. Nach diesem GesprĂ€ch begriff ich auch, dass ich noch ein paar Monate meines Lebens fĂŒr das Schreiben dieses Kapitels brauchen wĂŒrde. Ich beginne mit den alten Zeiten, als Gott unter den Menschen noch nicht zu finden war und die SexualitĂ€t ihre sĂŒndhafte Natur noch nicht kannte.
Warum ist diese Trennung der SexualitĂ€t vom Menschen ĂŒberhaupt passiert? Oder besser gesagt, warum ist sie in den dem Monotheismus vorangehenden Zivilisationen, in denen SexualitĂ€t als ein wichtiger und unentbehrlicher Bestandteil des Menschen gesehen wurde, nicht passiert?

Sex, bevor es Gott gab

Es ist sehr schwierig fĂŒr einen vernĂŒnftigen Menschen, die Tatsache zu akzeptieren, dass die abrahamitischen Religionen die SexualitĂ€t, eine so natĂŒrliche Offenbarung der menschlichen Natur, aus allen anderen BedĂŒrfnissen des menschlichen Körpers abgesondert hervorheben. Es scheint uns, dass genau dieses GefĂŒhl der große Montaigne spĂŒrte, als er in der Mitte des religiösen Obskurantismus seinen berĂŒhmten Sinnspruch zu diesem Thema schrieb:
„Wodurch hat sich der Geschlechtsakt vor den Menschen schuldig gemacht – ein so natĂŒrlicher, so wesentlicher und so gerechtfertigter Akt –, dass sich nicht einer traut, ohne Schamesröte auf dem Gesicht darĂŒber zu sprechen oder dieses Thema in einem ernsthaften und anstĂ€ndigen GesprĂ€ch anzuschneiden? Töten, Bestehlen, Verraten bringen wir leichtfertig ĂŒber die Lippen, dieses verbotene Wort jedoch bleibt uns im Halse stecken. Könnte man daraus vielleicht schließen, dass dieses Wort uns umso mehr im Kopf herumgeistert, je seltener wir es aussprechen?“
Und tatsĂ€chlich, obwohl die Rolle der Instinkte im menschlichen Verhalten immer noch Anlass zu hitzigen Debatten gibt, wagt sich niemand heutzutage, die große Kraft der sexuellen Lust und den riesigen Spaß, den ihre Befriedigung bringt, zu verleugnen. In dieser Hinsicht ist es unsinnig, den Menschen mit Tieren zu vergleichen: Der Mensch hat im Durchschnitt viel mehr Sex als Tiere, und meistens nur zur Erhaltung des VergnĂŒgens. Der Wunsch zur Fortpflanzung stellt nur einen winzigen Teil des Verlangens nach Sex dar.
Sex kam zu den Menschen lange vor allen Göttern, geschweige vor dem einen Gott. Dabei waren die altertĂŒmlichen Gesellschaften durch absolute sexuelle Freiheit geprĂ€gt. Die Geschlechtsorgane als die mystischen Werkzeuge der Fortsetzung des Menschengeschlechts wurden als sakrale GegenstĂ€nde der Verehrung betrachtet. Der Phallus wurde ĂŒberall dargestellt: auf den HĂ€usern, in der Öffentlichkeit, auf den alltĂ€glichen Dingen. Das weibliche Geschlechtsorgan war auch prĂ€sent: Es wurde bereits auf den ersten Artefakten der menschlichen Geschichte dargestellt. Die polytheistischen religiösen Kulte waren, ihrem Wesen nach, Kulte der SexualitĂ€t: Daher verboten die polytheistischen religiösen Kulte die sexuellen Kontakte nicht und riefen sogar zum Geschlechtsverkehr und Orgien auf, in denen sie die sakrale Lebensenergie sahen. Wie konnte man die Welt- und Menschenschöpfung ohne sexuelle Begierde denken?
Die Götter des Polytheismus sind auf den Basreliefen der Tempel in höchst erotischen Positionen zu sehen. Die Figuren zeigen ihre mĂ€nnlichen Glieder und ĂŒbergroße schwellende Schamlippen: Im Morgengrauen der Zivilisation galt die Vagina als sakrales Objekt. Und ob man sie zeigen darf, wem und wann genau, ist ja eine umstrittene Frage: Von der Natur aus gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Geschlechtsorganen und Armen oder Beinen.
Manche Historiker glauben sogar, dass der Gott am Anfang Frau war: In den sumerischen, assyrischen, phönizischen und armenischen Zivilisationen existierte der Kult der Göttin Astarte oder IĆĄtar, der mit der weiblichen SexualitĂ€t, Fortpflanzung und kosmischer Weisheit assoziiert wurde. Sumerische Hymnen vergleichen die Vulva der Göttin mit dem „Boot des Himmels“ und beschreiben enthusiastisch die „edlen Gaben“, die aus ihrem Schoß ausfluteten. Die Priesterinnen des Kults hatten an bestimmten Tagen sexuelle Beziehungen mit MĂ€nnern und ermunterten zu Orgien, weil sie glaubten, dass sie dadurch den MĂ€nnern erlaubten, „das Sakrale zu berĂŒhren“. In Babylon konnte ein Vater stolz seine unverheiratete Tochter zum Gottesdienst ins Gotteshaus geben, wo sie „Gottes Frau“ oder anders gesagt „Hure“ wurde. Es gab nichts BeschĂ€mendes und Peinliches darin, und die Tochter hat alle Rechte auf das Erbe vom Vater behalten. Herodotus schreibt:
„Nun aber kommt der hĂ€sslichste Brauch bei den Babyloniern. Jedes Weib des Landes muss sich einmal in ihrem Leben beim Tempel der Aphrodite niedersetzen und mit einem Fremden schlafen. [
] Das Geld mag nun so viel sein, als es will: Sie darf es nicht verschmĂ€hen; das ist verboten, denn das ist geweihtes Geld, und mit dem Erstbesten, der ihr Geld hinwirft, mit dem muss sie gehen, und darf keinen abweisen. Wenn sie sich nun hat beschlafen lassen, und sich dadurch der Göttin geweiht, so geht sie wieder nach Hause, und fortan kann man ihr noch so viel bieten, sie tut’s nicht wieder. Die nun hĂŒbsch aussehen und wohl gewachsen sind, die kommen bald wieder nach Hause; die hĂ€sslichen aber mĂŒssen lange Zeit dableiben und können das Gesetz nicht erfĂŒllen, ja manche bleiben wohl drei bis vier Jahre.“ (Herodotus, „Die Geschichten“)
Das ist eine, fĂŒr die heutige Art der ReligiositĂ€t, höchst ungewöhnliche Art der Gottesanbetung, und dennoch denke ich, dass der Großteil der mĂ€nnlichen Bevölkerung diesem Kult liebend gerne beitreten wĂŒrde – das wĂ€re doch weitaus vornehmer, als heimlich Geliebte und Prostituierte aufzusuchen. Übrigens, nahm das Wort „Orgie“, allein durch die BemĂŒhungen monotheistischer Religionen, eine stark negative Konnotation an. In der Antike jedoch bezeichnete es eine durchaus ehrenwerte TĂ€tigkeit (und auch jetzt teilen viele Menschen diese Ansicht, vor allem Jugendliche). In den Orgien sah man die sakrale Lebensenergie.
Hier ein paar Worte des Philosophen, Ethnografen und anerkannten Spezialisten fĂŒr antike Zivilisationen, Mircea Eliade, zum Thema Orgien:
„Gerade eine Orgie gibt der sakralen Energie des Lebens eine...

Table des matiĂšres