1AktualitÀt und Tradition der Organisationsentwicklung
1.1Die Welt der Organisationen in VerÀnderung
Wir leben in einer Gesellschaft von Organisationen. Der hohe und rasch wachsende Organisationsgrad ist ein herausragendes Merkmal der entwickelten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften und auch aller Gesellschaften im Ăbergang. Gesellschaftliche Problemlagen und auch die meisten persönlichen Problemstellungen werden in und von Organisationen bzw. Netzwerken von Organisationen bearbeitet und beeinflusst.
Die individuelle Entfaltung ist nachhaltig von Organisationen geprĂ€gt. Wir verbringen nicht nur einen GroĂteil unserer Lern- und Arbeitszeit in Organisationen, sondern sind auch auf Entscheidungen, Regelungen und Dienstleistungen von Organisationen in allen Teilen unseres Lebens angewiesen. Unsere soziale IdentitĂ€t wird wesentlich durch die Zugehörigkeit zu Organisationen geprĂ€gt.
Diese Steigerung des Organisationsgrades hat die KapazitĂ€t der Gesellschaften, Probleme zu bearbeiten, enorm gesteigert. Gleichzeitig werden dadurch neue Problemlagen geschaffen, die wiederum nur organisationsförmig zu bewĂ€ltigen sind (vgl. Wimmer 1995; Grossmann u. Heintel 2000). Die zunehmende Spezialisierung und SelektivitĂ€t der Organisationen beschleunigt die Entstehung neuer Organisationen und schafft gleichzeitig auch einen wachsenden Bedarf an bereichsĂŒbergreifender Koordination. Die Gesellschaft ist in ihrer Leistungs- und EntwicklungsfĂ€higkeit von der VerĂ€nderungsfĂ€higkeit der in ihr operierenden Organisationen abhĂ€ngig geworden.
FĂŒr die Menschen ist Organisationskompetenz zweifellos zu einer SchlĂŒsselqualifikation fĂŒr die erfolgreiche BewĂ€ltigung beruflicher Herausforderungen, aber auch fĂŒr die Beteiligung im gesellschaftlichen Leben geworden.
FĂŒr die sich beschleunigende Ausdifferenzierung der Welt von Organisationen gibt es viele Treiber, voran die Globalisierung der Wirtschaft mit dem rasch expandierenden Wirtschaftssystem der SchwellenlĂ€nder. In diesen LĂ€ndern wĂ€chst nicht nur der Wirtschaftssektor, auch die staatlichen Organisationen sehen sich mit sprunghaft wachsenden Anforderungen konfrontiert, von der Bildungs- bis zur Umweltpolitik. Der rasch wachsende Bedarf an qualifizierten ArbeitskrĂ€ften und neuen Lebensperspektiven treibt die Ausdifferenzierung des Bildungsund Wissenschaftssystems voran und macht eine neue Sozialpolitik notwendig. In den entwickelten Gesellschaften hat sich in den letzten Jahrzehnten ein rasanter Umbau der Organisationen vollzogen, die öffentliche Leistungen erbringen. Gesundheitsversorgung, soziale Dienstleistungen, Wissenschaft, Kulturproduktion wurden aus der unmittelbaren staatlichen Verwaltung ausgegliedert und in selbststĂ€ndigen Unternehmen organisiert. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen sind nicht nur der Sektor mit der höchsten Wachstumsrate, sie wirken auch als Innovationssystem. Sie ergĂ€nzen das Angebot des politisch-administrativen Systems, entwickeln neue Angebote, stĂ€rker von den BedĂŒrfnissen der Klienten1 ausgehend als Ausdruck gesellschaftlicher Selbstorganisation. DarĂŒber hinaus thematisieren sie gesellschaftliche Problemzonen und bringen unterprivilegierte Interessen zur Sprache.
Die Gestaltung der internationalen Beziehungen, die Regulierung des Welthandels, die politisch-diplomatische Bearbeitung von internationalen Konflikten und Krisen bis zur Arbeit an globalen Themen wie Klimaschutz, Migration, ErnÀhrung haben hochgradig ausdifferenzierte Organisationen und Verhandlungsregime hervorgebracht, einen Sektor, in dem staatliche, supranationale Organisationen und NGOs zusammenarbeiten.
Die skizzierten Entwicklungen haben zu einer sehr stark differenzierten und vielfĂ€ltigen Organisationslandschaft gefĂŒhrt. Kaum ein gesellschaftliches Entwicklungsthema kann von einer Organisation alleine bearbeitet werden. Von der Integrations- und Arbeitsmarktpolitik ĂŒber Regionalentwicklung und Finanzmarktaufsicht bis zur Gesundheitsversorgung und den sozialen Dienstleistungen sind Organisationen ganz unterschiedlichen Typs tĂ€tig. Sie operieren auf unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen mit verschiedenen professionellen Traditionen und in einem Mix von öffentlichen und privaten Investitionen und Beauftragungen.
Die Organisationen stellen fĂŒreinander eine turbulente Umwelt dar. Sie agieren als Konkurrenten und setzen Rahmenbedingungen fĂŒr das Handeln von anderen Organisationen wie die staatliche Gesetzgebung, internationale Finanzierungs- und Förderprogramme sowie internationale Verhandlungsregime. Sie versuchen aufeinander Einfluss zu nehmen durch Lobbying oder im Rahmen von Kooperationen.
Wenn Organisationen in einer systemtheoretischen Perspektive mit ihren relevanten Umwelten als Ăberlebenseinheit begriffen werden, dann sind (post)moderne Organisationen mit einer Ă€uĂerst vielfĂ€ltigen Umweltsituation konfrontiert. Die Selektion der relevanten Umwelten und die Auseinandersetzung mit diesen ist ein SchlĂŒssel fĂŒr den Erfolg und das Ăberleben der Organisationen geworden. Die FĂ€higkeit zur VerĂ€nderung ist fĂŒr die Organisationen und ihre Mitglieder eine Erfolgsvoraussetzung.
Organisationsentwicklung hat Konjunktur: erstens fĂŒr die innere Entwicklung von Organisationen, zweitens fĂŒr die Kooperation mit anderen Organisationen und drittens fĂŒr die Einflussnahme von zivilgesellschaftlichen Organisationen und sozialen Bewegungen auf öffentliche und private Organisationen.
1.2Organisationsentwicklung als besonderer Typus sozialer Interventionen
Organisationsentwicklung (OE) ist eine Methode zur geplanten VerĂ€nderung gröĂerer sozialer Systeme. Im Ensemble aller möglichen Formen, mit Organisationen umzugehen bzw. sie zu verĂ€ndern, ist OE eine vergleichsweise junge Erscheinung â sie entstand kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA (vgl. Abschn. 1.3). Sie nimmt ein qualitĂ€tsvolles, quantitativ kleines, jedoch wachsendes Segment ein.
Um die Besonderheit dieser Methode besser in den Blick zu bekommen, kann mithilfe relevanter Unterscheidungen ein grober Ăberblick ĂŒber wichtige in der Geschichte bislang praktizierte VerĂ€nderungsmethoden dienen:
VerĂ€nderung/dynamisches Gleichgewicht: GelĂ€ufig in der Alltagssprache ist die Unterscheidung zwischen VerĂ€nderung und Nicht-VerĂ€nderung (Beharren). Aus systemischer Sicht sind alle sozialen Systeme dynamisch, manche versuchen dabei ein Gleichgewicht aufrechtzuerhalten und sich nicht zu verĂ€ndern, bei anderen wird mehr oder weniger konzeptgeleitet verĂ€ndert. Es ist daher treffender, zwischen VerĂ€nderung und dynamischem Gleichgewicht zu unterscheiden. Damit wird der Blick darauf frei, auf welche Weise Organisationen den Status quo aufrechtzuerhalten suchen. Organisationen mĂŒssen, um zu ĂŒberleben, sowohl VerĂ€nderungen im Blick haben als auch KontinuitĂ€t und dynamisches Gleichgewicht beachten.
Gewalt/Konsens: Blickt man auf die gesamte Landschaft von VerĂ€nderungstypen, so entdeckt man rasch die Differenz zwischen mehr oder weniger gewaltförmigen Methoden und solchen, die nach besten Möglichkeiten den Konsens unter den Betroffenen anstreben. Krieg, Terrorismus, diktatorische VerhĂ€ltnisse in der Politik, Ausbeutung und Zwangsarbeit, aber auch »friedenssichernde« MilitĂ€r- oder Polizeigewalt fĂŒllen die Liste von Methoden zur Steuerung sozialer Systeme mit dem Einsatz von expliziter Gewalt.
Am anderen Pol steht der Konsens; dazwischen liegt die Mehrheitsentscheidung. FĂŒr die OE ist Konsens eine »regulative Idee«, die nicht immer lĂŒckenlos umgesetzt werden kann, aber die sich sehr empfiehlt, um hohe QualitĂ€t und breite Akzeptanz zu erzielen.
Top down/bottom up: Ob VerĂ€nderungsvorhaben von der FĂŒhrung (Hierarchie, Gesetze) vorgegeben oder von den Mitarbeitern, der »Basis« initiiert, beeinflusst und mitgestaltet werden, ist eine entscheidende Differenz. Eine von der Spitze durchgezogene VerĂ€nderung verspricht zunĂ€chst einen geringeren Kommunikationsaufwand, jedoch mit dem Risiko mangelnder Akzeptanz und damit mangelhafter und kostspieliger Umsetzung. Dieser Typus der hierarchischen Steuerung hat in der Geschichte bis heute eine lange Tradition, wenn auch seine LeistungsfĂ€higkeit den zunehmend komplexen Anforderungen nicht gewachsen ist. Mit dem Terminus Changemanagement wird meist ein elaboriertes und weitverbreitetes Konzept fĂŒr VerĂ€nderung bezeichnet, bei dem â der Logik der Hierarchie folgend â die FĂŒhrung die Ziele, den Ressourceneinsatz sowie den Zeit- und Umsetzungsplan vorgibt. Es wird jedoch im Unterschied zur bloĂen Anordnung von VerĂ€nderungen dem gesamten VerĂ€nderungsprozess spezielle Aufmerksamkeit gewidmet und mit eigener Projektstruktur und oft auch mit UnterstĂŒtzung externer Beratung umgesetzt.
Die Einbindung aller FĂŒhrungsebenen und vieler Mitarbeiter wird in Organisationen wichtig und unverzichtbar, wo die QualitĂ€t des Produkts bzw. der Dienstleistung in hohem MaĂe von der Expertise und der Leistungsbereitschaft der BeschĂ€ftigten abhĂ€ngig ist (Mintzberg 1992; Grossmann, Pellert u. Gotwald 1997; Grossmann u. Janes 2004). Fachlich und sozial am effektivsten ist sicher ein »Sowohl top down als auch bottom up«-Ansatz. Organisationsentwicklung als VerĂ€nderungskonzept zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sowohl die FĂŒhrung als auch die Mitarbeiter wichtige Rollen im VerĂ€nderungsprozess ĂŒbernehmen. In der OE geht es um selektive Partizipation mit gut fundierten Auswahlkriterien und differenzierten Verfahren der Einbindung. Dieses Konzept der OE kann auch als VerĂ€nderung von innen beschrieben werden, im Gegensatz zu importierten Expertenlösungen von auĂen, wie im Changemanagement.
Rasche Lösung/Nachhaltigkeit: VerĂ€nderungen werden in Organisationen meist aus der Not akuter Problemlagen geboren â mit einem entsprechenden Zeitdruck. Daraus resultiert ein Hang zu raschen Lösungen. Risiken dabei sind die unbeabsichtigten und ĂŒbersehenen Nebenfolgen, die als neue, selbst verursachte Probleme die positiven Folgen oft ĂŒbertrumpfen. OE ist auf nachhaltige Lösungen ausgerichtet und vermeidet es daher, dem DrĂ€ngen auf rasche Lösungen auf Kosten von grĂŒndlicher Reflexion nachzugeben.
In der Liste möglicher Methoden zur VerĂ€nderung darf die GrĂŒndung von Unternehmen und Organisationen nicht fehlen. Eine besondere Form eines VerĂ€nderungsprozesses stellt die Subversion dar. Im Unterschied zur Revolution (gewaltförmig, bottom up) wird sie nicht ausgerufen, sondern operiert verdeckt. Sie stellt den »Kontext bestehender Regeln des Systems in Rechnung ⊠und nutzt« ihn, »um die ...