1 VorĂŒberlegungen und Fragestellung
Die geplante Studie soll einen Beitrag zur vergleichenden Diktaturforschung leisten und nimmt die beiden GroĂdiktaturen im Europa des 20. Jahrhunderts in den Blick: die bolschewistisch-stalinistische Sowjetunion und das nationalsozialistische Deutschland. Diese beiden Regime sind hĂ€ufig unter dem Begriff des Totalitarismus zusammengefasst worden, und ebenso hĂ€ufig wurden dessen Sinnhaftigkeit und ZulĂ€ssigkeit bestritten. In dieser Debatte sind (geschichts)politische und geschichtswissenschaftliche Perspektiven nicht immer leicht zu trennen.1 Der wissenschaftliche Diktaturvergleich2 wurde (und wird) nicht nur durch die stets prĂ€sente Gefahr der Politisierung beeintrĂ€chtigt, sondern auch durch die sehr lange Zeit bestehende UnzugĂ€nglichkeit sowjetischer Archive fĂŒr die Forschung. Daraus ergab sich ein betrĂ€chtliches und mit dem Fortschritt der NS-Forschung ĂŒber die Jahrzehnte wachsendes Ungleichgewicht. Seit der sogenannten russischen Archivrevolution, mit der eine sich rasant entwickelnde Stalinismus- und Sowjetunion-Forschung auf breiter Quellenbasis einsetzte, ist dieser Hiatus aber deutlich kleiner geworden und in manchen Bereichen ganz verschwunden. Die Zeit ist damit reif, um auf die in den Diskussionen ĂŒber die Totalitarismus-Theorien aufgeworfenen Fragen empirische Antworten zu geben, und sie verlangt auch deshalb geradezu danach, weil das Totalitarismus-Paradigma in Zeiten wachsender Spannungen in Europa erneut zum politischen Instrument und Streitobjekt wird.3 Eine Historisierung ist daher dringend erforderlich.
In jĂŒngerer Zeit haben in der vergleichenden Diktaturforschung Gewaltraum-Konzepte Konjunktur; an erster Stelle zu nennen ist dabei Timothy Snyders internationaler Bestseller âBloodlandsâ von 2010. Einer der zentralen MĂ€ngel dieses Werks und Ă€hnlich ausgerichteter Publikationen besteht darin, dass sie in hohem MaĂe von den SinnzusammenhĂ€ngen der GewaltausĂŒbung abstrahieren und ideologische Weltbilder und daraus abgeleitete Feindbildkonstruktionen weitgehend aus dem Blick verlieren, oder â noch problematischer â diese rĂŒckwirkend aus dem synthetisierenden Konzept des Gewaltraums deduzieren, womit grundlegende Unterschiede verwischt werden.4 Auch wenn sie sich auf die Gewaltgeschichte beschrĂ€nken und keinen umfassenden Systemvergleich5 anstreben, leiden sie doch zumeist darunter, dass der sehr weite konzeptionelle Rahmen empirisch und vergleichend-analytisch kaum angemessen auszufĂŒllen ist.
In der geplanten Studie soll ein anderer Weg beschritten werden. Sie ist auf einen begrenzten Gegenstand fokussiert und folgt einem spezifischen Ansatz. Im Zentrum stehen justitielle Herrschaftspraktiken und deren legitimierende Funktionen. Die noch im Einzelnen zu begrĂŒndende Wahl des Vergleichsgegenstands, nĂ€mlich der politischen Justiz, ist bedingt durch a) deren Zugehörigkeit zur HerrschaftssphĂ€re, b) ihr relativ klares und begrenztes institutionelles Profil, c) ihre Stellung zwischen Legitimation, Regelhaftigkeit und Massengewalt sowie d) durch das ihr inhĂ€rente tertium comparationis, nĂ€mlich die VerfahrensgrundsĂ€tze des modernen Strafprozesses. Der sich daraus ergebende Forschungsansatz wird im Folgenden eingehender dargelegt.
2 Politische Justiz als Schnittpunkt von Repression und Legitimation
Obwohl politische Justiz gemeinhin vor allem als ein klassisches Merkmal von Diktaturen gilt und Roland Freisler, der PrĂ€sident des Volksgerichtshofs, oder Andrej VyĆĄinskij, der u. a. als AnklĂ€ger bei den groĂen Moskauer Schauprozessen fungierte, geradezu als emblematische Figuren des Totalitarismus gelten, werden ihre Institutionen und Praktiken bei der Analyse diktatorischer Regime und insbesondere in vergleichenden AnsĂ€tzen zumeist kaum in Betracht gezogen. Die Ursache dafĂŒr ist wahrscheinlich in der alles ĂŒberschattenden Dominanz exekutiv ausgeĂŒbter WillkĂŒr und Massengewalt zu sehen. So lautet, um eines der wirkungsstĂ€rksten Beispiele anzufĂŒhren, das zentrale Postulat ĂŒber die Struktur âtotaler Herrschaftâ in Hannah Arendts klassischem Werk: âDie Polizei ist [âŠ] in jedem Sinne das höchste und vornehmste Organ des totalen Herrschaftsapparats; sie verfĂŒgt zudem in den Konzentrationslagern ĂŒber ein in jeder Hinsicht vollkommen ausgestattetes Laboratorium, in welchem die AnsprĂŒche totaler Herrschaft experimentell verifiziert werden sollen.â6 Arendt vertrat die Auffassung, diese neuartige Staatsform, die sie âim Dritten Reich und in dem bolschewistischen Regimeâ manifestiert sah,7 habe die traditionellen Begriffe von Verbrechen und Schuld beseitigt und durch die der âUnerwĂŒnschtenâ und âLebensuntauglichenâ ersetzt.8 Nationalsozialismus und Stalinismus verstĂŒnden sich als Vollstrecker der GesetzmĂ€Ăigkeiten der Natur beziehungsweise der Geschichte und mĂŒssten daher die âZĂ€une der Gesetze dem Erdboden gleichmachenâ.9 Die Polizei sei dabei berufen, âdas innenpolitische Experiment der Transformation der TatsĂ€chlichkeit in die Fiktion zu ĂŒberwachenâ,10 womit die Dialektik von Ideologie und Terror angesprochen wurde. Der Justiz rĂ€umte Arendt in ihrer Analyse hingegen allenfalls eine marginale Rolle ein.11
Aber auch in dem ein halbes Jahrhundert spĂ€ter erschienenen Sammelband âBeyond Totalitarianismâ, der von Michael Geyer und Sheila Fitzpatrick herausgegeben wurde12 und eines der ehrgeizigsten diktaturvergleichenden Unternehmen der jĂŒngeren Zeit darstellt, stöĂt man auf den gleichen Befund: Justizsystem und Gerichte fallen bei der Analyse nicht ins Gewicht. Die einschlĂ€gigen BeitrĂ€ge13 reproduzierten trotz erklĂ€rter methodischer Distanz und einer natĂŒrlich unvergleichbar breiteren Quellen- und Materialbasis sogar in gewisser Hinsicht das Arendt'sche Wahrnehmungsmuster: Die Herrschaftsinstitutionen, die in den Fokus gerĂŒckt werden, sind Partei, Geheimpolizei, MilitĂ€r; die Justiz bleibt auĂen vor â auch jenseits der Totalitarismus-Theorien findet sich der gleiche blinde Fleck.
Und doch haben die Regime Lenins und Stalins beziehungsweise Hitlers bei der Verfolgung ihrer tatsĂ€chlichen oder vermeintlichen Gegner niemals vollstĂ€ndig auf den Einsatz der Justiz verzichtet, auch wenn sie ĂŒber nahezu allmĂ€chtige politische Polizeiapparate verfĂŒgten, deren Zugriff oft massenhaft, immer rĂŒcksichtslos, nicht selten tödlich war. Wozu diente in einem solchen Umfeld potentiell uneingeschrĂ€nkter staatlicher Gewalt der prozedurale Aufwand von politischen Prozessen, der sich keineswegs auf wenige spektakulĂ€re Verfahren beschrĂ€nkte, sondern eine gĂ€ngige Herrschaftspraxis war? Wozu die vielen langwierigen Untersuchungen, Zeugenanhörungen und Beweiserhebungen, wozu AnklĂ€ger und Anklageschriften, Verteidiger, Richter, Beisitzer, wozu das umstĂ€ndliche Zeremoniell der Verhandlungen vor Gericht, wenn in anderen, zum Teil sogar ganz Ă€hnlich gelagerten FĂ€llen ein Befehl oder ein administrativer Akt genĂŒgten, um Menschen, die als politisch-ideologische Feinde eingestuft wurden, umstandslos der Freiheit zu berauben oder sie gar ums Leben zu bringen? Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt der Studie, deren Gegenstand somit zugleich die spezifischen Funktionen sind, welche die politische Justiz in den betrachteten Regimen erfĂŒllte.
Eine erste grundsĂ€tzliche Antwort auf die Frage nach dem wozu lautet: Zur Legitimation! Diesen Gedanken hat insbesondere Otto Kirchheimer in seinem zuerst 1961 in den USA erschienenen, grundlegenden Werk âPolitische Justizâ hervorgehoben. Das Gerichtsverfahren, so Kirchheimer, diene âprimĂ€r der Legitimierung, damit aber auch der Einengung politischen Handelns. [âŠ] DaĂ sich die Machthaber auf die Festlegung eines MaĂstabes einlassen, der, mag er noch so vag oder noch so ausgeklĂŒgelt sein, die Gelegenheiten zur Beseitigung wirklicher oder potentieller Feinde einengt, verspricht ihnen ebenso reichen Gewinn wie ihren Untertanen. Die gerichtliche Feststellung dessen, was als politisch legitim zu gelten habe, nimmt unzĂ€hligen potentiellen Opfern die Furcht vor Repressalien oder vor dem Liquidiertwerden und fördert bei den Untertanen eine verstĂ€ndnisvolle und freundliche Haltung gegenĂŒber den SicherheitsbedĂŒrfnissen der Machthaber.â14
In der politischen Justiz gehen demnach Repression und Legitimation Hand in Hand. Wenn aber Regime, fĂŒr deren Herrschaftspraxis extralegale, rein administrativ durchgefĂŒhrte VerfolgungsmaĂnahmen charakteristisch sind, parallel dazu stets auch auf justitielle Mittel zurĂŒckgegriffen haben, ist dies ein klarer Hinweis auf das Vorhandensein spezifischer LegitimationsbedĂŒrfnisse. Das heiĂt allerdings keineswegs, dass die auĂergesetzliche, etwa durch Polizeiorgane unmittelbar umgesetzte Verfolgung als solche keiner BegrĂŒndung bedĂŒrfte. Aleksandr SolĆŸenicyn hat darĂŒber im âArchipel Gulagâ reflektiert: âUm Böses zu tun, muĂ der Mensch es zuallererst als Gutes begreifen oder als bewuĂte gesetzmĂ€Ăige Tat. So ist, zum GlĂŒck, die Natur des Menschen beschaffen, daĂ er fĂŒr seine Handlungen eine Rechtfertigung suchen muĂ. [âŠ] Die Ideologie! Sie ist es, die der bösen Tat die gesuchte Rechtfertigung und dem Bösewicht die nötige zĂ€he HĂ€rte gibt. Jene gesellschaftliche Theorie, die ihm hilft, seine Taten vor sich und vor den anderen reinzuwaschen, nicht VorwĂŒrfe zu hören, nicht VerwĂŒnschungen, sondern Huldigungen und Lob.â15 Die moderne TĂ€terforschung16 hat indes den Stellenwert unmittelbar ideologischer Motivierung bei staatlichen Massenverbrechen relativiert. Als einziger, durchgĂ€ngiger und entscheidender Beweggrund â das dĂŒrfte trotz unterschiedlicher Gewichtungen Konsens sein â kann sie nicht gelten, schon allein deshalb nicht, da es in der Regel um institutionell eingebundenes, oft arbeitsteiliges staatliches Handeln geht. Auch der ideologiegeleitete Herrschaftsdiskurs bedarf der AbstĂŒtzung durch etablierte und anerkannte Verfahren.
Insbesondere dort, wo die Herrschaft einerseits stark in die VerhĂ€ltnisse der Untertanen eingreift und andererseits die Ideologie allein als Rechtfertigungsgrund nicht ausreichend ist, kann daher die politische Justiz eine anderweitig schwer zu erzielende legitimierende Wirkung entfalten. Das Verfahren, also die rechtlich geordnete Entscheidungsfindung, nehme, so der Soziologe Niklas Luhmann, einen jeweils âeinmaligen Platz in Raum und Zeitâ ein. Gerichtsverfahren seien dabei gegenĂŒber politischen Wahlen und Verfahren der Gesetzgebung, die er in seiner Studie âLegitimation durch Verfahrenâ ebenfalls untersuchte, âdie Ă€ltere und elementarere Verhaltensordnungâ.17 Legale und traditionale Legitimationsfaktoren verb...