Die Postkolonialismusforschung hat in den vergangenen 30 Jahren eindrĂŒcklich herausgearbeitet, dass sich das VerstĂ€ndnis von âHinduismusâ und âBuddhismusâ als einheitliche âReligionenâ auf einen kolonial bestimmten Aushandlungsprozess in der zweiten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts zurĂŒckfĂŒhren lĂ€sst.1 Insbesondere der britische Kolonialismus in SĂŒdasien zeigte sich dabei als der historische Rahmen, innerhalb dessen indigene Quellen im 19. Jahrhundert entdeckt und von europĂ€ischen Gelehrten im Horizont eines zeitgenössischen VerstĂ€ndnisses von âReligionâ gedeutet wurden.2 Anhand von regionalwissenschaftlichen Studien lĂ€sst sich ablesen, wie umstritten die dadurch entstandenen Kategorien in den postkolonialen Kontexten bis in die Gegenwart sind: In ihnen haben sich asymmetrische MachtverhĂ€ltnisse und Strategien von Ausschluss und Vereinnahmung niedergeschlagen, durch die die Frage der ReprĂ€sentation kultureller IdentitĂ€ten virulent bleibt.3 Trotz der privilegierten Position europĂ€ischer Stimmen gehört es zu den grundlegenden Einsichten der Postkolonialismusforschung, dass den kolonialen Subjekten eine wesentliche Rolle bei der Herausbildung kolonialen Wissens zukam und dies wiederum auf die Diskussion ĂŒber âReligionâ in Europa zurĂŒckwirkte.4 In Ă€hnlicher Weise wurde die Konzeptualisierung des âIslamâ als âReligionâ im Rahmen einer kolonialen Wissensproduktion im 19. Jahrhundert deutlich gemacht.5 Dementsprechend muss die Etablierung der Kategorien âHinduismusâ, âBuddhismusâ und âIslamâ als das Ergebnis eines globalen Religionsdiskurses verstanden werden, der zwar von asymmetrischen MachtverhĂ€ltnissen geprĂ€gt war, sich aber dennoch konstitutiv in wechselseitiger Bezogenheit von âwestlichenâ und âkolonialenâ ĂuĂerungen ereignet hat.
Angesichts dieses Befundes wĂ€re eigentlich zu erwarten, dass sich auch eine Historisierung der Bezeichnung âChristentumâ und des Allgemeinbegriffs âReligionâ selbst etabliert hĂ€tte, die beide als diskursiv erzeugte Kategorien begreift und sie zu jenem globalen Aushandlungsprozess ab der zweiten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts in Beziehung setzt. Wie gleich zu zeigen sein wird, herrscht stattdessen in der Religionswissenschaft wie in der konfessionellen Theologie gegenwĂ€rtig ein breiter Konsens darĂŒber, dass das Konzept âReligionâ ein genuin europĂ€isches sei, das im Zeitalter der âAufklĂ€rungâ im 18. und frĂŒhen 19. Jahrhundert unter âchristlichenâ Vorzeichen geprĂ€gt wurde. Erst in einem zweiten Schritt sei dieses unter den Bedingungen des Kolonialismus global rezipiert worden. DemgegenĂŒber versucht diese Untersuchung nachzuweisen, dass die Herausbildung der heutigen Bedeutung von âReligionâ und âChristentumâ parallele Entwicklungen darstellen, die sich wie die Entstehung der Kategorien âHinduismusâ, âBuddhismusâ und âIslamâ in der zweiten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts in einem globalen Religionsdiskurs vollzogen haben.
Die hegemoniale Geltung der Rede vom âeuropĂ€ischen Religionsbegriffâ zeigt sich zunĂ€chst in der Religionswissenschaft. Der französische Religionswissenschaftler Daniel Dubuisson bezeichnet âReligionâ als ein Konzept, das am âChristentumâ orientiert sei und ein bestimmtes Ideal verfolge:
Diese ideale Definition befördert eine psychologische und hochgradig individualistische Zielvorstellung. Sie reduziert Religion auf ein inneres GefĂŒhl, das zwangslĂ€ufig aus der Erfahrung von Transzendenz herrĂŒhrt, [âŠ]. Dieses Konzept, das im 20. Jahrhundert im Zuge der PhĂ€nomenologie wiederentdeckt wurde, verdankt sich gröĂtenteils [âŠ] theologischen Ăberzeugungen lutherischer Herkunft: Johann Herder, Friedrich Schleiermacher [âŠ] und viele weniger bekannte Namen haben seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zum Erfolg dieser einprĂ€gsamen Pseudo-Reduktion beigetragen.6
Dieses VerstĂ€ndnis findet sich auch in regionalwissenschaftlichen Werken. In dem Standardwerk An introduction to Hinduism schreibt Gavin Flood: âUnser VerstĂ€ndnis des Hinduismus ist vermittelt durch westliche Vorstellungen davon, was Religion ist [âŠ].â Dies begrĂŒndet er damit, dass âdie Kategorie âReligionâ sich aus einem christlichen, weitgehend protestantischen VerstĂ€ndnis heraus entwickelt hat.â7 In Ă€hnlicher Weise skizziert der Heidelberger Indologe Axel Michaels die Genese des heutigen VerstĂ€ndnisses von âReligionâ:
Die frĂŒhen Christen in Rom nannten sowohl ihren eigenen Glauben als auch den heidnischen Kult religio; erst spĂ€ter wurde der christliche Glaube als vera religio (âwahre Religionâ) abgehoben, und erst in der AufklĂ€rung wurde âReligionâ zu einem den Religionen ĂŒbergeordneten Begriff. [âŠ] Nicht-westliche Sprachen kennen den Begriff religio nicht.8
Doch auch unter Fachvertretern, die sich einem postkolonialen Forschungsansatz verpflichtet wissen, gehört der Verweis auf den vermeintlich europĂ€ischchristlichen Ursprung der Kategorie âReligionâ zu den Voraussetzungen ihrer Kritik. Der britische Religionswissenschaftler Timothy Fitzgerald fĂŒhrt die Entstehung von âReligionâ als transkulturelles Konzept auf den europĂ€ischen Deismus im 18. Jahrhundert zurĂŒck.
Jedenfalls haben verschiedene Autoren wie die Deisten spĂ€testens seit dem 18. Jahrhundert im Verlauf eines historischen Prozesses [âŠ] bewusst versucht, die Bedeutung von âReligionâ zu verĂ€ndern, indem sie ihre spezifisch christlichen Elemente abschwĂ€chten; dadurch erweiterten sie sie zu einer kulturĂŒbergreifenden Kategorie.9
Aus der historischen Verortung der Kategorie âReligionâ im âChristentumâ ergibt sich fĂŒr Fitzgerald ein epistemologisches Problem, wenn diesem Religionsbegriff eine grundlegende heuristische Funktion in der Religionswissenschaft zugeschrieben wird:
Wenn man das unscharfe und doch ideologisch aufgeladene Konzept von âReligionâ und âReligionenâ zum Ausgangspunkt seiner Forschung macht, kann dies einerseits das Ergebnis der Analyse entstellen und wertlos machen und andererseits wichtige Verbindungen verdecken, die andernfalls sichtbar geworden wĂ€ren. SchlieĂlich fördert es die unkritische Anwendung jĂŒdisch-christlicher Anschauungen auf nicht-westliche Sachverhalte und maximiert generell die Möglichkeiten des Missverstehens.10
Der unreflektierte, referentielle Gebrauch des Religionsbegriffs in der Religionswissenschaft fĂŒhrt nach Fitzgerald mithin zu einer Verzerrung der empirischen Daten und historischen Archive, die eine sachgerechte ErschlieĂung der ForschungsgegenstĂ€nde gefĂ€hrde. Aus diesem Grund plĂ€diert Fitzgerald dafĂŒr, auf den Religionsbegriff in der Religionswissenschaft ganz zu verzichten.11
Der britische Religionswissenschaftler und Indologe Richard King spricht sich zwar nicht fĂŒr den Verzicht auf die Kategorie âReligionâ aus, doch auch er begreift die Herausbildung des Religionsbegriffs als Produkt der âAufklĂ€rungâ: âIn der Tat ist die moderne Kategorie âReligionâ eine westliche Konstruktion, die sich in erheblichem MaĂe den Voraussetzungen der AufklĂ€rung verdankt.â12 Ferner stellt auch King aufgrund dieses vermeintlichen historischen Ursprungs einen konstitutiven Zusammenhang zwischen der Entstehung der Kategorie âReligionâ und dem âChristentumâ her. Diese Verbindung markiert fĂŒr King ebenfalls ein erkenntnistheoretisches Problem fĂŒr die Religionswissenschaft:
Das Konzept âReligionâ ist das Ergebnis kulturspezifischer, diskursiver Entwicklungen der westlichen Christentumsgeschichte und wurde im Feuer interreligiöser Konflikte und Auseinandersetzungen geformt. Der Ausdruck impliziert daher einen pluralistischen Kontext. Wie [der Leidener Indologe; M. T.] Balagangadhara betont, diente dabei das Christentum als prototypisches Beispiel einer Religion und bildete daher den grundlegenden MaĂstab oder den paradigmatischen Fall fĂŒr die Untersuchung âanderer Religionenâ. Unter dieser Voraussetzung sollte anerkannt werden, dass die vergleichende Religionswissenschaft weiterhin auf einem Fundament ruht, das in seiner Ausrichtung unzweifelhaft theologisch und christlich ist.13
Kings Kritik fokussiert auf den Umstand, dass durch die Anwendung des Konzepts âReligionâ faktisch das âChristentumâ zum Prototyp der âReligionâ erklĂ€rt wĂŒrde, wodurch alle ĂŒbrigen âReligionenâ implizit am MaĂstab des âChristentumsâ gemessen wĂŒrden. In der Religionswissenschaft zielt der Rekurs auf einen âeuropĂ€ischen Religionsbegriffâ somit auf die Kritik am strukturellen Eurozentrismus der eigenen Forschungspraxis, insofern sie unreflektiert eine vermeintlich europĂ€isch geprĂ€gte Kategorie zum Ausgangspunkt wĂ€hle.
Aus ganz anderen GrĂŒnden und mit einer anderen StoĂrichtung kommt der deutsche katholische Theologe Ernst Feil in seinem vierbĂ€ndigen Monumentalwerk Religio (1986â2007) zu der gleichen historischen Verortung der gegenwĂ€rtigen Bedeutung von âReligionâ. Die vom Umfang gröĂte auf einer detaillierten Quellenforschung basierende Begriffsgeschichte zu âReligionâ zielt auf eine Kritik an der Verwendung der Kategorie âReligionâ innerhalb der Theologie. Zu diesem Zweck will Feil zeigen, dass das bis in die Gegenwart dominierende VerstĂ€ndnis von âReligionâ als ein allgemeinmenschliches PhĂ€nomen der Innerlichkeit14 erst im Europa des 18. Jahrhunderts, genauer: im deutschsprachigen Protestantismus, unter Einfluss des Deismus entstanden sei: âDie lange gesuchte und nun nachgewiesene ZĂ€sur liegt also erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Der Weg von ihr bis hin zur vielleicht wichtigsten Entfaltung der âReligionâ im neuen Sinn bei Schleiermacher ist somit sehr kurz gewesen.â15
In gleicher Weise wird die Entstehung des heutigen VerstĂ€ndnisses von âReligionâ auch von Vertretern der zeitgenössischen deutschsprachigen protestantischen Theologie in der Epoche der âeuropĂ€ischen AufklĂ€rungâ im 18. Jahrhundert lokalisiert. Im Unterschied zur Religionswissenschaft und zur katholischen Theologie wird diese Zuschreibung hier jedoch positiv rezipiert. In der Einleitung seiner begriffsgeschichtlichen Monographie Was ist Religion? schreibt der evangelische Theologe Falk Wagner (1939â1998):
Obwohl der Religionsbegriff seine Karriere erst unter den Bedingungen der Neuzeit und der Moderne antritt, wird doch auch die Geschichte seiner antiken Entstehung und mittelalterlichen Verwendung zumindest ĂŒberblicksweise einbezogen, um so den entscheidenden VerĂ€nderungen seiner Verwendungsweise gewahr zu werden. Diese bahnen sich in der Renaissance, Reformation und altprotestantischer Orthodoxie an und erreichen in der europĂ€ischen AufklĂ€rung mit ihrem VerstĂ€ndnis natĂŒrlicher Religion allgemeine Geltung, die bis in die Gegenwart bestimmend geblieben ist. Die Grundlagenbedeutung, die dem Religionsbegriff seit der AufklĂ€rung und seit Herder, Schleiermacher und Hegel insbesondere fĂŒr die protestantische Theologie und Religionsphilosophie zukommt, wird zwar in kritischer Absetzung vom VerstĂ€ndnis natĂŒrlicher Religion formuliert. Gleichwohl ist nicht zu ĂŒbersehen, daĂ diese bis in die Gegenwart als konstitutiv geltende NeubegrĂŒndung des Religionsbegriffs auch dem Interesse an der Allgemeinheit der Religion verpflichtet bleibt, das zum VerstĂ€ndnis natĂŒrlicher Religion als entscheidendes Kriterium zugrunde liegt.16
Die entscheidende â weil bis heute gĂŒltige â PrĂ€gung habe das Konzept âReligionâ nach Wagner demnach im Sinn der ânatĂŒrlichen Religionâ zur Zeit der âeuropĂ€ischen AufklĂ€rungâ im engeren Kontext der protestantischen Theologiegeschichte erhalten.
Wagner steht mit dieser EinschĂ€tzung innerhalb der deutschsprachigen evangelischen Theologie nicht allein. In einem Beitrag fĂŒr den Sammelband AufgeklĂ€rte Religion und ihre Probleme â der in paradigmatischer Weise die positive Rezeption der Hypothese eines âeuropĂ€ischen Religionsbegriffsâ zum Ausdruck bringt â bezeichnet der Theologe Ulrich Barth die Entstehung der Kategorie âReligionâ als ein Erzeugnis des âChristentumsâ zur Zeit der âeuropĂ€ischen AufklĂ€rungâ:
Der Wortbedeutung nach verweist der Ausdruck ,Religionâ in die römische Antike und wurde als solcher vom Christentum ĂŒbernommen. Unmittelbare semantische Ăquivalente in anderen Hochkulturen lassen sich nicht leicht ausmachen, obwohl es natĂŒrlich sachliche Entsprechungen in HĂŒlle und FĂŒlle gibt. Innerhalb der vorneuzeitlichen Geschichte des Christentums spielte er allerdings eine erstaunlich geringe Rolle. Seine eigentliche Geburt fĂ€llt in die Epoche der europĂ€ischen AufklĂ€rung. Hier erlangt er den Status einer reflexiven Darstellungskategorie mit vergleichender, kontrastierender oder integrativer Funktion.17
Sowohl Wagner als auch Barth kommen darin ĂŒberein, dass sich der gegenwĂ€rtige Bedeutungsgehalt der Kategorie âReligionâ zur Zeit der âeuropĂ€ischen AufklĂ€rungâ formiert habe und mit dem âChristentumâ â besonders in seiner protestantischen Form â in einem konstitutiven Zusammenhang stehe. Daneben wird auch der Ausdruck âChristentumâ als Reflexionsbegriff verstanden, der im Zuge der Deutung âreligionskulturellerâ UmbrĂŒche im 18. Jahrhundert entstanden sei.18 Die Herausbildung der Konzepte âReligionâ und âChristentumâ werden in der...