1.1.1 Prolegomena zur antiken ErzÀhltheorie
WĂ€hrend die klassisch-strukturalistische Narratologie des zwanzigsten Jahrhunderts im Wesentlichen synchron ausgerichtet war, ja vielleicht sogar âachronâ war, lĂ€sst sich in der ErzĂ€hltheorie der letzten Jahrzehnte verstĂ€rkt die Tendenz zur Diachronie beobachten.1 Die sog. diachrone Narratologie, die auch eine Forschungsrichtung der Klassischen Philologie darstellt, untersucht nicht die Geschichte der erzĂ€hltheoretischen Konzepte, sondern den Einsatz von narratologischen Formen und Funktionen in diachroner Perspektive.2 Wenig Aufmerksamkeit hat bisher die Geschichte der ErzĂ€hltheorie auf sich gezogen, und zwar insbesondere in Bezug auf die Antike.3 Die hier prĂ€sentierte Monographie versucht, einen Beitrag zum SchlieĂen dieser LĂŒcke zu leisten.
Gibt es so etwas wie eine antike ErzĂ€hltheorie oder wĂ€re es ein Anachronismus, hiervon zu sprechen? Die Antwort auf diese Frage hĂ€ngt von mehreren Faktoren ab, u. a. davon, wie eng oder wie weit man den Begriff der ErzĂ€hltheorie definiert. Als vorlĂ€ufige Definition bietet sich die folgende an: Unter der ErzĂ€hltheorie versteht man Reflexionen ĂŒber das ErzĂ€hlen. Insofern ist es unproblematisch, von einer antiken ErzĂ€hltheorie zu sprechen, da es selbstverstĂ€ndlich viele antike Reflexionen ĂŒber das ErzĂ€hlen gegeben hat. Die vorgeschlagene Definition sieht sich aber mit zumindest zwei Problemen konfrontiert: Zum einen muss Rechenschaft ĂŒber den Theoriebegriff abgelegt werden. Zum anderen ist nun der Begriff des ErzĂ€hlens zu definieren.
Was den Theoriebegriff angeht, so gibt es zwar verschiedene Bedeutungen und verschieden strenge Kriterien, die erfĂŒllt sein mĂŒssen, damit man von einer Theorie im strengen Sinn sprechen kann. In dieser Monographie wird der Begriff âTheorieâ aber in dem ganz allgemeinen und in der Literaturwissenschaft etablierten Sinn verwendet, dass ein Autor ĂŒber das Wesen und die Bedingungen von Literatur (in diesem Fall: des ErzĂ€hlens) reflektiert.4 Was das zweite Problem betrifft, muss man zwar zwischen dem antiken und dem modernen ErzĂ€hlbegriff unterscheiden und auf zumindest eine gravierende Differenz hinweisen: Die antike ErzĂ€hltheorie ist eine Narratologie ohne ErzĂ€hler, da die Dissoziierung zwischen dem Autor und dem fiktiven ErzĂ€hler modern ist.5 Trotz dieses wesentlichen Unterschiedes verbietet es sich aber nicht, von einer antiken ErzĂ€hltheorie zu sprechen, wenn man eine ErzĂ€hlung im antiken Sinn als Darstellung von Ereignissen definiert (s. Kap. 1.1.2).
Es gibt also eine antike ErzĂ€hltheorie, wenn man diese in dem weiten Sinn der Reflexionen ĂŒber das ErzĂ€hlen definiert. Nun stellt sich aber die Frage, wie man das diskursive Feld bestimmt, das die antike ErzĂ€hltheorie konstituiert. Hierbei muss man berĂŒcksichtigen, dass nicht alle Reflexionen ĂŒber das ErzĂ€hlen den Gegenstand der modernen Narratologie bilden.6 Insbesondere bleibt die Lehre von der ansprechenden Stilisierung der ErzĂ€hlung i.W. unberĂŒcksichtigt, da Fragen, die den Sprachstil einer ErzĂ€hlung betreffen, nicht zur modernen ErzĂ€hltheorie, sondern zur Stilistik und Rhetorik gezĂ€hlt werden.7
Diejenigen PhĂ€nomene, die innerhalb der modernen ErzĂ€hltheorie behandelt werden, lassen sich kaum auf einen Begriff bringen, sondern nur aufzĂ€hlen (z. B. Fokalisierung, Distanz, unzuverlĂ€ssiges ErzĂ€hlen etc.). Daher muss man unter der modernen ErzĂ€hltheorie diejenigen Reflexionen ĂŒber das ErzĂ€hlen verstehen, die Narratologen wie Genette systematisiert haben. Folglich werden auch in diesem Buch weder quantitativ noch systematisch alle antiken Reflexionen ĂŒber und Instruktionen zur ErzĂ€hlung behandelt. Vielmehr besteht die hier prĂ€sentierte antike ErzĂ€hltheorie aus den wichtigsten Reflexionen ĂŒber das ErzĂ€hlen, von denen viele mutatis mutandis denjenigen Kategorien entsprechen, die moderne Narratologen wie Genette konzipiert und/oder kompiliert haben, ohne dass sich diese Monographie sklavisch an dieser Norm orientiert.8 Die moderne ErzĂ€hltheorie dient in dieser Untersuchung der antiken ErzĂ€hltheorie vordringlich dazu, das diskursive Feld zu systematisieren, innerhalb dessen sich in einem zweiten Schritt die antiken Positionen ausdifferenzieren lassen.9
Die auf diese Weise sich konstituierende antike ErzÀhltheorie weist zwei wesentliche Unterschiede zur modernen ErzÀhltheorie auf: Zum einen sind die VerhÀltnisse insofern invers, als die antike ErzÀhltheorie eine allgemeine Konzeption des ErzÀhlens darstellt, innerhalb derer in einer Binnendifferenzierung das literarische ErzÀhlen behandelt wird. Die moderne ErzÀhltheorie ist hingegen eine Ausdifferenzierung des literarischen ErzÀhlens. Die (fehlende) Konzipierung des ErzÀhlers in der antiken bzw. modernen ErzÀhltheorie scheint eine Folgeerscheinung der jeweils unterschiedlichen Herangehensweisen an das PhÀnomen des (literarischen) ErzÀhlens zu sein.
Zum anderen, aber hiermit verbunden, liegt ein wesentlicher Unterschied in der Art des Diskurses:10 Die moderne ErzĂ€hltheorie stellt einen unabhĂ€ngigen Diskurs dar, da es viele Texte gibt, in denen die ErzĂ€hltheorie das dominante Thema darstellt, ja dieser Begriff sogar im Titel der entsprechenden Publikationen vorkommt. Einen antiken Text De narratione (scribenda) i. S.v. âĂber die ErzĂ€hlung / Zur ErzĂ€hltheorieâ, in dem die meisten der in dieser Monographie prĂ€sentierten Aspekte diskutiert wurden, hat es nicht gegeben. Vielmehr finden sich die narratologischen Reflexionen verteilt ĂŒber die verschiedensten (Kon-)Texte und Gattungen der gesamten antiken Literatur, wobei einige erzĂ€hltheoretische Ăberlegungen z. B. in den rhetorischen Instruktionen zur ErzĂ€hlung (narratio) und in der Aristotelischen Poetik enthalten sind.
Die antike ErzĂ€hltheorie stellt also einen abhĂ€ngigen Diskurs dar, da in denjenigen (Kon-)Texten, in die die erzĂ€hltheoretischen Ăberlegungen eingebettet sind, schwerpunktmĂ€Ăig andere Themen behandelt werden. Zu diesen (Kon-)Texten gehören i.W.: die Rhetoriktheorie inklusive der Progymnasmata-HandbĂŒcher;11 Poetiken im weiten Sinn von poetologischen Schriften; philosophische Texte; geschichtstheoretische Passagen, die sich hĂ€ufig in Geschichtswerken, aber auch in anderen Texten finden; Kommentare und Scholien. Auch wenn rhetorische Texte in dieser Monographie eine wichtige Rolle spielen werden, werden die erzĂ€hltheoretischen Reflexionen ĂŒber die Rede eine untergeordnete Rolle spielen. Vielmehr werden die narratologischen Reflexionen ĂŒber die anderen ErzĂ€hlgattungen (v. a. Epos, Geschichtsschreibung und teilweise auch das Drama; zum Drama als ErzĂ€hlung s. Kap. 1.1.3.3) im Vordergrund stehen und solche Aussagen, die eine gattungsĂŒbergreifende Geltung haben.
SchlieĂlich stehen die in dieser Monographie prĂ€sentierten erzĂ€hltheoretischen Reflexionen im SpannungsverhĂ€ltnis zwischen dem Autor, dem ErzĂ€hltext und den potentiellen Rezipienten (ein SpannungsverhĂ€ltnis, das man mit dem âSitz im Lebenâ bezeichnen könnte).12 Insofern markiert insbesondere der rezeptionsorientierte Charakter der antiken ErzĂ€hltheorie einen zwar nicht kategorialen, aber graduellen Unterschied gegenĂŒber der modernen ErzĂ€hltheorie, die â gerade wenn man Genettes ErzĂ€hltheorie zum Vergleich heranzieht â fast ausschlieĂlich die Textstruktur in den Blick nimmt.
1.1.2 Der antike und der moderne ErzÀhlbegriff
Die antike ErzÀhltheorie ist eine Narratologie ohne ErzÀhler, da der vom Autor verschiedene ErzÀhler bzw. die ErzÀhlinstanz erst in der Moderne konzipiert worden ist. Folglich ist der antike Begriff der ErzÀhlung im Gegensatz zum modernen ErzÀhlbegriff nicht so zu verstehen, dass ein fiktiver ErzÀhler, sondern dass der Autor spricht. Wenn man den antiken mit dem modernen ErzÀhlbegriff vergleicht, treffen also einige Aspekte des modernen ErzÀhlbegriffes auf den antiken ErzÀhlbegriff zu, wohingegen in der modernen Kategorie des vom Autor verschiedenen ErzÀhlers der wesentliche Unterschied besteht,13 wobei diese Dissoziierung keineswegs unumstritten ist (s. Kap. 1.3).
Der moderne ErzĂ€hlbegriff umfasst mehrere Aspekte, vielleicht hat er sogar mehrere Bedeutungen: Die Begriffe der ErzĂ€hlung und des ErzĂ€hlens werden einerseits in dem ganz allgemeinen Sinn des Berichtens in Bezug auf die verschiedensten Medien, ErzĂ€hler (im Sinn eines Menschen, der erzĂ€hlt) und ErzĂ€hlsituationen verwendet: z. B. erzĂ€hlt der Sitznachbar im Bus oder Zug etwas.14 Andererseits wird dieser Begriff in der gegenwĂ€rtigen Narratologie in Bezug auf die literarische ErzĂ€hlung vorwiegend durch zwei Aspekte definiert, wobei der erstere Ăberschneidungen mit der zuvor genannten Alltagsbedeutung des Begriffes aufweist:15 Das eine Merkmal besteht darin, dass â anders als bei der Beschreibung â von einer ZustandsverĂ€nderung berichtet wird, die zumindest eine zeitliche Sequenz und vielleicht sogar eine kausale Motivierung aufweist. Man könnte auch davon sprechen, dass ein Ereignis (aus x1 wird x2) oder eine Geschichte/Handlung, die i. d. R. aus mehreren Ereignissen und statischen Elementen (s. Kap. 2.2) besteht, geschildert wird.16
In der sich um 1900 etablierenden ErzĂ€hltheorie steht im Begriff der ErzĂ€hlung hingegen der Aspekt im Vordergrund, dass â anders als beim dramatischen PrĂ€sentationsmodus â die vom Autor verschiedene Vermittlungsinstanz des ErzĂ€hlers den Rezipienten die erzĂ€hlte, hĂ€ufig fiktive Welt vermittelt.17 In der Praxis der Literaturanalyse werden diese beiden Aspekte des ErzĂ€hlbegriffes zumeist miteinander vermischt, wobei diese Vermischung mitunter explizit gemacht wird, indem eine ErzĂ€hlung im weiteren Sinn von einer ErzĂ€hlung im engeren Sinn (der vom Autor verschiedene ErzĂ€hler spricht) unterschieden wird.18
Viele, aber nicht alle genannten Aspekte des modernen ErzĂ€hlbegriffes â v. a. nicht die ErzĂ€hlerfigur â treffen auf den antiken Begriff der ErzĂ€hlung (narratio/ÎŽÎčáœ”ÎłÎ·ÏÎčÏ/ÎŽÎčáœ”ÎłÎ·ÎŒÎ±)19 im Sinn einer Minimaldefinition zu. Die ErzĂ€hlung wurde nĂ€mlich in den Rhetorik- und Progymnasmata-HandbĂŒchern definiert als âDarstellung von geschehenen oder quasi geschehenen Ereignissenâ (narratio est rerum gestarum aut ut gestarum expositio).20 Hierin zeigt sich die zuvor erwĂ€hnte (s. Kap. 1.1.1) allgemeinere Konzeption des ErzĂ€hlens, die fĂŒr die Antike charakteristisch ist, da es sich bei dieser Definition insbesondere auch um eine rhetorische Definition der narratio im Sinn der Schilderung des Tathergangs in der Gerichtsrede handelt. Die zitierte Definition beschrĂ€nkt sich aber keineswegs auf das ErzĂ€hlen vor Gericht (bzw. auf die drei Redegattungen; s. Kap. 1.3), sondern umfasst auch verschiedene Formen der literarischen ErzĂ€hlung, die in der dort folgenden Systematik unterschieden werden.21 Der antike ErzĂ€hlbegriff, der dieser Monographie zugrunde liegt, ist also weiter gefasst als der moderne ErzĂ€hlbegriff.
1.1.3 Weitere Grundbegriffe der antiken und der modernen ErzÀhltheorie
Auf einzelne Aspekte der antiken Definition der ErzÀhlung, und zwar auch auf diejenigen relevanten Aspekte, die nicht in...