Dritter Teil 1
Klar freut man sich. Aber irgendwie ist es auch beunruhigend, seltsam. Jede Menge Fragen stĂŒrmen auf dich ein, wenn du die E-Mail eines Unbekannten in deinem Posteingangsfach vorfindest. Er redet dich mit deinem Namen an, stellt sich vor. Bittet dich um Entschuldigung fĂŒr die Störung. Alle beginnen mehr oder weniger gleich. Sie sagen, dass sie dein Buch gelesen und sich darin wiedergefunden hĂ€tten. âDu hast ĂŒber mein Leben geschriebenâ, versicherte mir eine Frau, die um einiges Ă€lter ist als ich. Andere sind jĂŒnger, wollten aber gerne wissen, was sie einmal erwartet. Als ob das, was ich geschrieben habe, ihnen als Leitfaden oder sonst etwas dienen könnte.
Wenn du diese Mails bekommst, hast du ein flaues GefĂŒhl im Magen. Dir gehen viele Dinge auf einmal durch den Kopf. Zuerst, dass die Absender das gelesen haben, was du vor ein paar Monaten geschrieben hast. Sie haben deinen Roman gekauft oder jemand hat ihnen deinen Roman geschenkt, oder sie haben ihn auf dem Nachttisch von ihrem Freund gesehen und sich gedacht, mal schauen, und haben angefangen zu lesen und konnten nicht mehr aufhören. Und danach, aus welchem Grund auch immer, haben sie gemeint, sie mĂŒssten dir das alles mitteilen. Sie bedanken sich sogar bei dir. Sich bedanken? MĂŒsste es nicht eigentlich umgekehrt sein, fragst du dich vor dem Computer. MĂŒsste nicht eigentlich ich ihnen Danke sagen, denn schlieĂlich haben sie mir ein paar Stunden ihrer Zeit gewidmet? Mir. Meiner Geschichte. Eine Geschichte, die ich geschrieben habe, um ein wenig SpaĂ zu haben, ob das nun dem ĂŒbergenauen Marcel gefĂ€llt oder nicht. Dem Perfektionisten Marcel. Dem unvermeidbaren, ewigen, immer prĂ€senten Marcel.
âLies das malâ, bitte ich Ivan, und schicke ihm die Mail einer Journalistin, die mir schreibt, dass auch sie nicht aus Barcelona stammt und wie gut sie die Angst nachvollziehen kann, wenn der Mietvertrag auslĂ€uft und du nicht in der Lage bist, die Mieterhöhung zu tragen. SchlieĂlich hast du nicht die Möglichkeit, eine Zeitlang bei den Eltern unterzukommen, so wie andere, die sich wĂ€hrenddessen etwas Neues suchen und ihre Arbeit, ihre Freunde, ihre Routine beibehalten können. Nein. Wenn wir, die wir von auswĂ€rts kommen und noch dazu Freelancer sind, ohne Wohnung bleiben, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir ziehen in eine Wohngemeinschaft mit anderen DreiĂigjĂ€hrigen, die genauso geliefert sind wie wir (aber aus dem Alter sind wir eigentlich raus) oder wir verlieren alles, gehen zurĂŒck auf die Insel, zurĂŒck auf âLosâ. Wir sind raus aus dem Spiel.
âDu bist die Besteâ, antwortet Ivan mit drei XXX, das sind drei KĂŒsse.
Ich bedanke mich bei allen, antworte ihnen, dass das, was sie mir schreiben, mich sehr bestÀrkt und dem Roman einen Sinn gibt. Nicht nur der Tatsache, ihn geschrieben zu haben, sondern dem Schreiben an sich. Ich bin aufrichtig. Sie haben nach meiner E-Mail-Adresse gesucht, wie sie sie herausgefunden haben, weià ich allerdings nicht. Sie haben ein paar Zeilen verfasst. Und da sind sie nun, an einem so persönlichen und privaten Ort, einem Ort, der allein mir gehört, wie eben mein elektronisches Postfach. Eindringlinge.
Darum registriere ich mich bei Facebook. So wird es fĂŒr sie leichter, mich zu finden, und ich werde mehr ĂŒber sie in Erfahrung bringen können, wo sie herkommen, wer sie sind, was wir gemeinsam haben, einmal abgesehen vom Alter und der Stadt. Barcelona mit dreiĂig. Barcelona im Jahr 2007. Wir werden unsere Gesichter sehen. Ich erhalte jede Menge Freundschaftsanfragen. Ich nehme sie alle an. Auch dafĂŒr bedanken sie sich.
Einige antworten auf die Dankesmail, mit der ich auf ihre erste Nachricht reagiert habe. Diese zweite Nachricht ist wesentlich ausfĂŒhrlicher. Sie schreiben, sie hĂ€tten nicht mit einer Antwort von mir gerechnet, bestimmt hĂ€tte ich doch viel Arbeit, nochmals danke, wie nett von dir. Danach erzĂ€hlen sie mir, dass ihre Ex dies und jenes âŠ, dass die Liebe reine Fiktion sei und die Einsamkeit die beste Begleiterin, aber verdammt treulos, und ob wir uns nicht mal verabreden sollten, um was zu trinken, ob ich gerne einen drauf mache, ob die Vorliebe fĂŒr Bier mein einziger Schwachpunkt ist, denn Biertrinken sei ja nun nicht gerade feminin. Soweit die Jungs. Die MĂ€dels erzĂ€hlen mir, dass ihr Ex dies und jenes âŠ, dass die Liebe reine Fiktion sei und die Einsamkeit ein gefĂ€hrlicher Geliebter, denn der kann dich so elend fĂŒhlen lassen, dass du dich schlieĂlich dem NĂ€chstbesten an den Hals wirfst.
NatĂŒrlich drĂŒcken sie sich anders aus. In ihre Freude mischt sich immer auch ein Anflug von Ăngstlichkeit.
Auf diese zweiten E-Mails antworte ich nicht mehr. In Gedanken allerdings schon. In Gedanken sage ich ihnen:
Lieber Unbekannter,
Was weiĂt du schon von mir. Du glaubst, ich nehme alles auf die leichte Schulter, doch nur so kann ich dich auf die wichtigen Dinge aufmerksam machen. Ich bin eine Illusionistin der Wirklichkeit. Was weiĂt du schon vom Schmerz, von dieser Wunde, aus der Literatur quillt, die blutende Wunde derjenigen, die wir nur schreibend zu fĂŒhlen gelernt haben und nur ĂŒber das gedruckte Wort zu denken verstehen. So wie jemand, der komplizierte Berechnungen anstellt, sich die einzelnen Schritte notiert, und einen davon ĂŒbertrage ich. Komm ich dir zu affektiert vor? Oder bist du der Ansicht, man mĂŒsse dem Leben gegenĂŒber immer eine ernste Haltung einnehmen, damit man dich fĂŒr sensibel und tiefgrĂŒndig hĂ€lt? Denkst du nur an den Tod, wenn bei einem geliebten Menschen Krebs diagnostiziert wird? Wenn ein Unfall die Frage nach dem Sinn des Lebens in dir aufwirft?
Ich denke immer an den Tod, ich beziehe ihn stets mit ein, denn verhindern können wir ihn eh nicht: Wenn ich ein Flugzeug besteige oder ein Auto, oder wenn ich mit der Metro fahre oder runter auf die StraĂe gehe, denke ich an ihn. Wenn ich zu Hause bleibe, kommt mir der Gedanke an eine Gasexplosion, oder dass die WĂ€nde meines Appartements ĂŒber mir zusammenstĂŒrzen könnten. Ich denke nicht nur an meinen Tod, sondern auch an deinen, an den von irgendjemandem. Was wĂ€re, wenn du einen Infarkt erleiden wĂŒrdest, wĂ€hrend du diese Zeilen liest? Dann fĂ€nden sie deinen Körper auf der Tastatur liegend und diese Worte auf dem Bildschirm deines Computers. Vielleicht wĂŒrde jemand glauben, wir wĂ€ren Freunde und wĂŒrden uns regelmĂ€Ăig schreiben. Dabei habe ich lediglich auf eine E-Mail von dir geantwortet, um mich zu bedanken. Und du hast daraus den Schluss gezogen, dies gĂ€be dir das Recht, dich vor mir zu erleichtern. Doch, mit Verlaub, dein Inneres, deine Eingeweide, sie stinken. Nimm es nicht persönlich. Deine und die von allen. Sie bluten und zucken. Oder ich stelle mir vor, dass du Selbstmord verĂŒbst. Vielleicht wĂŒrde man mir ja die Schuld daran geben, weil ich dir diese Nettigkeiten hier zugedacht habe? Weil deine Verehrung nicht auf Gegenliebe gestoĂen ist? Wie auch immer, erfĂŒhre ich von deinem Selbstmord, wĂŒrde ich mich auf jeden Fall schuldig fĂŒhlen oder verantwortlich fĂŒr deinen Tod. Obwohl ich wahrscheinlich nie erfahren wĂŒrde, dass du tot bist, ebenso wenig, wie ich bislang wusste, dass du lebst. Du wĂŒrdest mir nicht mehr schreiben und ich wĂŒrde niemals mehr an dich denken. Stirbt jemand wegen etwas, das man ihm schreibt? FrĂŒher, ja. In anderen LĂ€ndern, auch. Aber bei uns scheint es so, als könne das Geschriebene niemandem Schaden zufĂŒgen.
Mittlerweile bin ich so gut mit ihm vertraut, dass ich mich sogar ĂŒber ihn lustig mache. Ăber den Tod, meine ich. Ich werde ihn zwar nicht besiegen können, aber ich kann ihn ruhig ein bisschen weniger ernst nehmen. Im Augenblick kĂŒmmert ihn das noch nicht. In meinem Kopf, in allen Geschichten gibt es einen Tod, der alles verĂ€ndert. Als ob es nicht das Leben wĂ€re, das im Grunde alles verĂ€ndert. In dem Roman, mit dem du dich so sehr identifizierst und den ich geschrieben habe, stirbt niemand. Wer stirbt schon in unserem Alter? Fast niemand. Wir alle könnten sterben, doch wer tut das schon? Nur eine Minderheit. Und man publiziert schlieĂlich fĂŒr die groĂe Masse, auch wenn eigentlich niemand liest. Man publiziert, um zu gefallen, nehme ich jedenfalls an. Du hast mich gelesen. Das glaubst du zumindest. Aber du hast nicht mich gelesen, sondern das, was ich geschrieben habe. Mich zu lesen, ist schwieriger, nicht einmal ich bin sicher, dass mir dies gelingen wĂŒrde.
Ich erinnere mich an alles, sogar an das, was ich noch gar nicht gelebt habe. Und manchmal komme ich durcheinander. Ich weiĂ nicht, was vorher und was nachher geschehen ist, denn in meinem Kopf spielt sich alles gleichzeitig ab. Alles geschieht simultan, die ganze Zeit ĂŒber. Alles ist Erinnerung. Unaufhörlich.
Deshalb schreibe ich. Weil ich nur so das ordnen kann, von dem ich nicht weiĂ, ob es Erinnerungen oder SehnsĂŒchte sind. Ich erfinde die Ursachen und die Folgen, die sich daraus ergeben werden. Was hat was ausgelöst? Ich fĂŒhre eine schwierige Berechnung aus, wende die entsprechende Formel an, bringe das Chaos meiner Gedanken in eine geordnete ErzĂ€hlung, um Dingen einen Sinn zu geben, von denen ich weiĂ, dass sie keinen haben. Lieber Unbekannter, im Grunde bin ich bereits tot, doch mein Leben lang versuche ich, dies zu vergessen. Auch du bist tot. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass du es nicht merkst. Ich will dich ablenken und dir begreiflich machen, was es bedeutet, hier zu leben, ob nun mit dreiĂig, mit zwanzig, mit achtzig, egal in welchem Alter.
Ich werde dich an Orte bringen, an denen du dich sicher fĂŒhlst. Unterhaltsame Orte, Bars, Whisky, tolle Freunde, Ziggy Stardust und die gemeinsamen Erinnerungen einer Generation von Melancholikern wie der unsrigen, nicht so sehr mit einem praktischen, sondern mit einem emotionalen GedĂ€chtnis ausgestattet, das kaum zum Ăberleben taugt, wohl aber, um uns zu beklagen, Erinnerungen, die wir austauschen wie seinerzeit die Panini-Sticker auf dem Schulhof. Materialistische Nostalgie nach Street Fighter und Blandiblub. Wenn alles lĂ€ngst postum ist.
Lieber Unbekannter, dass du dich in meinem Roman wiedererkannt hast â dass du das GefĂŒhl hast, es ginge um dich, wo ich doch ĂŒber mich geschrieben habe â bedeutet nur, dass hunderte, ja tausende Leben unserem Ă€hneln, und das mit nur ganz wenigen Variationen. Menschen, die die gleichen Dinge konsumieren, die gleichen Fernsehprogramme sehen, nicht mehr von den Sopranos, The West Wing und The Wire loskommen, die als Kinder Alf und V geschaut haben, die bei Twin Peaks ausgeflippt sind und noch heute die Melodie der SesamstraĂe summen können. Sie möchten gefallen, akzeptiert werden oder beliebt sein, sie glauben, es stehe ihnen mehr zu, als sie haben, sie reden sich ein, dass sie gar nicht viel verlangen, obwohl sie im Grunde alles wollen, auĂer Problemen. Und wenn ihnen dies nicht gelingt, dann haben immer die anderen Schuld: die Nationalisten, die Politiker, das Heteropatriarchat, der Kapitalismus, die Vergangenheit, das System. Man muss Stellung beziehen, fĂŒr die Freiheit kĂ€mpfen, fĂŒr welche auch immer. Und das unermĂŒdlich. Wir sind Zeugen des Weltuntergangs, doch wir merken es gar nicht. Also, ich schon, aber ich werde dir diesen Weltuntergang nicht zeigen. Ich werde ihn vor dir verbergen, damit du keine Angst bekommst.
Denkst du, weil ich so mit dir rede, bin ich davon ĂŒberzeugt, alles besser zu wissen? Naiv, weil ich weiter nichts als GemeinplĂ€tze von mir gebe? Mit dreiĂig Jahren sollte ich an andere Dinge denken? Ich sollte ausgehen und trinken und vögeln und Freundinnen haben, mit denen ich ĂŒber alle ablĂ€stern kann? Genau das tue ich, Unbekannter, fĂŒr wen hĂ€ltst du mich? Und genau deshalb bin ich ja interessant fĂŒr dich und hat dich mein Buch angesprochen. Weil ich das Gleiche mache wie du, weil wir beide ein verdammt tolles Leben fĂŒhren. Wir sind privilegiert, leben in einer Stadt mit einem guten Klima, die genau die richtige GröĂe hat und Preise, die wir uns gerade noch erlauben können. An einem Bier jedenfalls wird es uns nie fehlen. Und solange wir uns ein Bier leisten können, ist alles in Ordnung. Wir kennen uns nicht. So sehr uns auch dieselben BĂŒcher gefallen mögen, wir an denselben Orten anzutreffen sind, derselben Generation angehören und ein soziales Netzwerk uns als Freunde bezeichnet, wir kennen nur das, was wir vom anderen gelesen haben. Das, was der andere uns von sich hat zeigen wollen.
Schau, lieber Leser, ich brauche dich, aber ich ertrage es nicht, dass ich dir gefalle, denn ich weiĂ ja noch nicht einmal, wer du bist. AuĂer zwei E-Mails habe ich nichts von dir gelesen und in denen ist von mir die Rede. Oder von der Person, fĂŒr die du mich hĂ€ltst. Ich lache ĂŒber den Tod und ich lache ĂŒber mich selbst, um ĂŒber einfach alles lachen zu können. Denn es stimmt nicht, dass uns nur die Erinnerung bleibt. Das Einzige, was uns bleibt, immer, ist das Lachen.
Niemals die Deine,
Ich
Wie oft hatte ich Lust, eine solche E-Mail auch abzuschicken. Ich nÀhre mich vom Leben der anderen. Das Problem ist nur, dass sie in mein Leben eindringen wollen, dass ihnen das, was ich schreibe, nicht reicht, dass sie herausfinden wollen, wer ich bin.
Da waren sie, diese Fremden in meinem Posteingangsfach, und legten vor mir eine Beichte ab. Vielleicht hofften sie, die Figuren meines nĂ€chsten Romans zu werden, oder vielleicht wollten sie sich einfach nicht allein fĂŒhlen. Und ich empfand eine gewisse Scham. Warum musste ich all diese Dinge wissen, die sie mir da erzĂ€hlten? Was machte mich in ihren Augen wĂŒrdig, ihre Geheimnisse zu teilen? Sie verwechselten mich mit meiner ErzĂ€hlerin, aber mir kam es so vor, als sei diese ErzĂ€hlerin weiter nichts als eine kĂŒnstliche Haut, die ich mir zur Tarnung ĂŒbergezogen hatte. Kann man sich mit Haut tarnen? Das BerĂŒhren, die FĂ€higkeit, Reize wahrzunehmen, die allertiefsten Empfindungen, all das geschieht ĂŒber die Haut. Und ich bin eigentlich eher dĂŒnnhĂ€utig, nur kaschiere ich das, seitdem ich in Barcelona lebe, denn sonst hĂ€tte ich hier kein Bein auf die Erde bekommen; wer wĂŒrde schon so viel Ernsthaftigkeit ertragen. Ich hatte das GefĂŒhl, sie zu verraten, nicht aufrichtig zu sein. Ich wollte ihnen sagen: Ihr habt euch in die Romanfigur verliebt, nicht in die Autorin. Und zugleich wusste ich, dass ich ihnen nichts sagen konnte.
Marcel hat mich oft gewarnt: Vorsicht mit dem, was du veröffentlichst, denn das ist das, was man von dir glauben wird. Egal wie du bist...