CHOLERA IN PARIS, CORONA IN DEUTSCHLAND
âFRANZĂSISCHE ZUSTĂNDEâ, DEUTSCHE ZUSTĂNDE
Heinrich Heine hat Deutschland verlassen und lebt seit 1831 in Paris. Die Julirevolution in Frankreich im Jahr 1830 mit der Beendigung der Bourbonen-Herrschaft verspricht ihm, so sieht er es, in Frankreich ein freieres Leben als in Deutschland, dem Land des âSchlafmĂŒtzentumsâ. Heines Problem, ein geregeltes Leben in eingeengten beruflichen Bahnen zu fĂŒhren - er bezeichnet die Stadt Hamburg, in der er mit dem von seinem Onkel Salomon Heine fĂŒr ihn eingerichteten TuchgeschĂ€ft pleite geht, als âSchacherstadtâ und âverludertes Kaufmannsnestâ - dieser Enge meint er in Paris entkommen zu können und sein âunerquickliches Lebenâ in Hamburg hinter sich zu lassen. Salomon Heine zeigt sich sein Leben lang groĂzĂŒgig und unterstĂŒtzt seinen Neffen auch im fernen Paris.6
Heines erste Adresse in Paris ist das HĂŽtel de Luxembourg in der Rue Vaugirard 54, direkt am Jardin de Luxembourg, also eine sehr noble Unterkunft. Schon im Februar 1832 wechselt er allerdings auf die andere Seite der Seine, die Rive droite, in eine Wohnung in der Rue de lÂŽĂchiquier 38, die in einem stillen Hinterhof liegt. August Lewald schreibt dazu in seinen Gesammelten Schriften ĂŒber seinen Freund Heine: âIn Paris wĂ€hlt er lange, bis er eine Wohnung findet. (âŠ) Die einsamsten, entlegensten StraĂen sind ihm die liebsten; und nun wĂ€hlt er wieder einen einsamen, stillen Hof, oft den zweiten, dritten, wenn es sein kann, weit weg vom GerĂ€usche und Treiben des Lebens; kein Stall, kein Waschhaus, kein Handwerker darf in der NĂ€he sein.â Heines Wohnung âlag im zweiten Hofe eines gerĂ€umigen HĂŽtels, in welchem Gras wuchs und eine Todtenstille lagerte.â7
Heine glaubt sich, schreibt August Lewald weiter, âvon Spionen aller Nationen umgeben, denn auch wegen seiner kĂŒhnen AeuĂerungen ĂŒber Louis Philipp hielt er sich nicht fĂŒr sicher. Es war merkwĂŒrdig, ihn zu beobachten, mit welcher Verachtung der Gefahr er seine Meinung ins Publicum sandte.â8
In Paris schreibt Heine in dieser Wohnung neben Essays, Gedichten und Prosa auch politische Artikel fĂŒr Zeitungen, fĂŒr das deutsche Publikum in der Augsburger âAllgemeinen Zeitungâ, die im Verlag der CottaÂŽschen Buchhandlung des Verlegers Johann Friedrich Cotta erscheint. Einige in dieser Zeitung veröffentlichten BeitrĂ€ge gibt Heines Hamburger Verleger Julius Campe spĂ€ter, im Jahr 1833, nach lĂ€ngerem Streit zwischen Heine und Campe (âLeben Sie wohl und hole Sie der Teufelâ, Heine am 28. Dezember 1832 an Julius Campe) unter dem Titel âFranzösische ZustĂ€ndeâ als Buch heraus.
âIch rede von der Cholera, die seitdem hier herrscht, und zwar unumschrĂ€nkt, und die, ohne RĂŒcksicht auf Stand und Gesinnung, tausendweise ihre Opfer niederwirft.â
Am 29. April 1832 veröffentlicht die âAllgemeine Zeitungâ als âAuĂerordentliche Beilageâ ohne Nennung des Namens des Verfassers den ersten Teil eines Berichtes mit dem Titel âFranzösische ZustĂ€ndeâ, die Schilderung Heinrich Heines ĂŒber die Cholera in Paris. Der Text erscheint bereits zehn Tage nach seiner Niederschrift in der Zeitung. An den folgenden Tagen können die Leser bis zum 2. Mai die weiteren Fortsetzungen der Beschreibungen Heines ĂŒber die Cholera verfolgen. Am Schluss der letzten Folge sind die Initialen des Verfassers der Berichte aufgefĂŒhrt: H. H., mehr nicht.
Unter den Datum des 19. April 1832 schreibt Heine, er wolle in einem spĂ€teren Artikel ĂŒber die Revolution in Frankreich schreiben, aber âdie Gegenwart ist in diesem Augenblicke das Wichtigere, und das Thema, das sie mir zur Besprechung darbietet, ist von der Art, daĂ ĂŒberhaupt jedes Weiterschreiben davon abhĂ€ngt.â9 âIch rede von der Choleraâ, erklĂ€rt Heine, die jetzt in Paris herrsche âund zwar unumschrĂ€nkt, und die, ohne RĂŒcksicht auf Stand und Gesinnung, tausendweise ihre Opfer niederwirft.â
âBei dem groĂen Elende, das hier herrscht, bei der kolossalen Unsauberkeit, die nicht blos bei den Ă€rmeren Klassen zu finden ist, bei der Reizbarkeit des Volkes ĂŒberhaupt, bei seinem grenzenlosen Leichtsinne, bei dem gĂ€nzlichen Mangel an Vorkehrungen und VorsichtsmaaĂregeln, muĂte die Cholera hier rascher und furchtbarer als anderswo um sich greifen.â
Mit dem âgroĂen Elendeâ beschreibt Heine die Lebenssituation der âĂ€rmeren Klassenâ, die nach seiner Darstellung darunter leiden mĂŒssen, dass die politisch Verantwortlichen keine ausreichenden VorsichtsmaĂnahmen veranlasst hĂ€tten, wie sie, Heine erwĂ€hnt es an anderer Stelle, in London getroffen worden sind.
Die âDeutsche Welleâ meldet am 31. Dezember 2019 unter der Ăberschrift âMysteriöse Krankheit in China entdecktâ, eine bislang unbekannte Lungenkrankheit sei in der zentralchinesischen Metropole Wuhan ausgebrochen und fragt âDroht eine neue Pandemie?â10
Es wĂŒrden Erinnerungen an die SARS-Pandemie aus dem Jahr 2002 wach, die zu den gefĂ€hrlichsten Infektionswellen der jĂŒngeren Zeit zĂ€hle. Jeder zehnte Patient sei damals an der Virus-Infektion gestorben. Das chinesische Parteiorgan, die âVolkszeitungâ, dementiere jedoch diese Darstellung.
Seit Anfang Dezember 2019 erkranken mehrere Patienten in Wuhan an einer LungenentzĂŒndung. Die Polizei in Wuhan ermittelt gegen Personen, die GerĂŒchte verbreiten, es handele sich um einen neuen Ausbruch von Infektionskrankheiten.11 Der Augenarzt Li Wenliang warnt vor der neuen Krankheit, unterschreibt jedoch anschlieĂend auf Druck des örtlichen BĂŒros fĂŒr Sicherheit eine ErklĂ€rung, er habe âfalsche Kommentareâ abgegeben und sei bereit, die Krankheit nicht weiter zu diskutieren. (3. Januar 2020). Li Wenliang stirbt am 6. Februar 2020 an der neuen Lungenkrankheit.
Eine Ă€hnlich nĂŒchterne Darstellung der Auswirkungen der Cholera in Paris im Jahr 1832, wie die obige Wiedergabe der aktuellen Entwicklung der Corona-Infektionen in Wuhan, ist nicht zu erwarten, wenn Heinrich Heine als Autor berichtet.
Ein Blick auf die literarische Arbeit Heines zeigt, dass er in den âFranzösischen ZustĂ€ndenâ keineswegs objektiv als neutraler Berichterstatter agiert.
Heine beschreibt Stimmungen, auch seine eigenen, und schildert hĂ€ufig weniger die RealitĂ€t, sondern erzĂ€hlt eher von emotional geprĂ€gten EindrĂŒcken. Schon bei der Einleitung zu seiner Darstellung ĂŒber die Cholera vermerkt Heine: âIch wurde in dieser Arbeit viel gestört, zumeist durch das grauenhafte Schreien meines Nachbars, welcher an der Cholera starb.â Er sei sich âzwar nicht bewuĂt, die mindeste Unruhe empfunden zu haben, aber es ist doch sehr störsam, wenn einem bestĂ€ndig das Sichelwetzen des Todes allzuvernehmbar ans Ohr klingt.â Die EinfĂŒhrung zielt auf Emotionen der Leser, die die grauenhafte Situation nachvollziehen sollen. Das âSichelwetzen des Todesâ ist ein sprachliches MeisterstĂŒck, das eine gewisse Schockwirkung in der Vorstellung der Leser hervorrufen dĂŒrfte, wenn sie sich ausmalen, wie der Tod mit abscheulichem GerĂ€usch sein Werkzeug schĂ€rft.
Trotz der emotionalen Passagen seiner Berichte nimmt Heine fĂŒr sich in Anspruch, eine objektive Darstellung der Cholera-Epidemie zu ĂŒbermitteln. âDie folgende Mittheilungâ, schreibt er, âhat vielleicht das Verdienst, daĂ sie gleichsam ein BĂŒlletin ist, welches auf dem Schlachtfelde selbst, und zwar wĂ€hrend der Schlacht, geschrieben worden, und daher unverfĂ€lscht die Farbe des Augenblicks trĂ€gt.â
Heine selbst bescheinigt sich die nötige âGemĂŒthsruheâ, um ĂŒber die âGeschichte der Zeitâ, die Cholera, zu berichten. Vom âSchlachtfelde selbstâ berichtet Heine nicht, sondern er lĂ€sst sich drei Wochen Zeit, bevor er mit Datum vom 19. April 1832 die Ereignisse der ersten Wochen der Epidemie zu Papier bringt.
âIhre Ankunft war den 29. MĂ€rz offiziell bekannt gemacht worden, und da dies der Tag des Demi CarĂȘme12 und das Wetter sonnig und lieblich war, so tummelten sich die Pariser um so lustiger auf den Boulevards, wo man sogar Masken erblickte, die, in karrikierter MiĂfarbigkeit und Ungestalt, die Furcht vor der Cholera und die Krankheit selbst verspotteten.â
âLe Moniteur universelâ informiert die Leser am 29. MĂ€rz 1832, dass einige VorfĂ€lle am 27. und 28. MĂ€rz Anlass dazu geben anzunehmen, die krampfartige Cholera habe sich in Paris ausgebreitet. Die Zeitung beruhigt die Bevölkerung aber sofort mit der Information, es seien Schritte unternommen worden, die Fakten festzustellen. Im Ăbrigen gelten Sauberkeit, gesunde ErnĂ€hrung, der Verzicht auf starke alkoholische GetrĂ€nke und jegliche Exzesse als beste Vorsorge.
Das Corona-Virus breitet sich aus, weltweit, es kann zu einer Pandemie kommen, aber fĂŒr uns in Deutschland ist das Risiko gering.
Das Robert Koch-Institut (RKI), die zentrale Forschungseinrichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Beobachtung von Krankheiten und Gesundheitsgefahren, meldet am 13. Februar 2020, sechzehn Tage zuvor, am 28. Januar 2020, sei in Deutschland ein erster Fall einer Infektion mit dem âneuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 laborbestĂ€tigtâ worden. Inzwischen seien 16 FĂ€lle einer Infektion bekannt, schreibt das RKI in seinem âEpidemiologischen Bulletinâ 7/2020.13
Kenntnisse ĂŒber die Eigenschaften des Virus, beispielsweise die AnsteckungsfĂ€higkeit (InfektiositĂ€t), die Zeitdauer, bis nach einer Ansteckung bei Infizierten Symptome erkennbar sind (Inkubationszeit) oder wie lange Erkrankte Viren ausscheiden seien nicht vorhanden. Allerdings sei das âRisiko fĂŒr die Bevölkerung in Deutschland aktuell noch als geringâ einzuschĂ€tzen. Wie das RKI zu dieser Beurteilung kommt, ist nicht nachvollziehbar, da das âEpidemiologische Bulletinâ auch berichtet, das Coronavirus breite sich in China, dem Land, in dem das Virus SARS-CoV-2 zuerst festgestellt worden ist, weiter aus, und die globale Entwicklung lege es nahe, âdass es zu einer weltweiten Ausbreitung des Virus im Sinne einer Pandemie kommen kann.â
Die âTagesschauâ eröffnet die Sendung am 22. Januar 2020 um 20 Uhr mit der Meldung âIn China werden immer mehr FĂ€lle von Erkrankungen durch das neue Coronavirus bekannt. (âŠ) Die Weltgesundheitsorganisation in Genf berĂ€t in einer Krisensitzung ĂŒber die Lage.â Im darauf folgenden Filmbericht heiĂt es: âDie Lage ist ernst.â Filme und Grafiken verdeutlichen die internationale Ausbreitung des Virus, das zum ersten Mal, laut âTagesschauâ, auf einem Fischmarkt in der chinesischen Millionenstadt Wuhan in der Provinz Hubei aufgetreten sei. Der Beitrag ĂŒber das Coronavirus ist mit 3: 50 Minuten relativ ausfĂŒhrlich; er endet mit der EinschĂ€tzung des RKI, das Risiko sei gering.
Das Publikum wird diesen Beitrag achselzuckend zur Kenntnis genommen haben.
Heinrich Heine notiert, die öffentlichen Hinweise und Mahnungen zur Vermeidung der Krankheit wĂŒrden nicht ernst genommen.
âDesselben Abends waren die Redouten besuchter als jemals; ĂŒbermĂŒthiges GelĂ€chter ĂŒberjauchzte fast die lauteste Musik, man erhitzte sich beim ChahĂ»t14, einem nicht sehr zweideutigen Tanze, man schluckte dabei allerlei Eis und sonstiges kaltes Getrinke: als plötzlich der lustigste der Arlequine eine allzu groĂe KĂŒhle in den Beinen verspĂŒrte, und die Maske abnahm, und zu aller Welt Verwunderung ein veilchenblaues Gesicht zum Vorschein kam. Man merkte bald, daĂ solches kein SpaĂ sei, und das GelĂ€chter verstummte, und mehrere Wagen voll Menschen fuhr man von der Redoute gleich nach dem Hotel-Dieu, dem Centralhospitale, wo sie, in ihren abenteuerlichen Maskenkleidern anlangend, gleich verschieden.â
In DĂŒsseldorf erfreuen sich die vielen Tausend feiernden Karnevalisten am 24. Februar 2020 beim Rosenmontagszug an den Themenwagen, die an den Feiernden vorbeifahren. Ein blau-buntes lachendes âCarnevals-Virusâ aus PappmachĂ©e auf einem der Themenwagen macht einem gelb-grĂŒnen, grimmig blickenden âCorona-Virusâ, ebenfalls aus PappmachĂ©e, eine lange Nase. Dem nĂ€rrischen Frohsinn sind keine Grenzen gesetzt, jubelnd, trotz Regens, begrĂŒĂen die munteren Karnevalisten diesen geistesblitzenden Einfall rheinischen Humors in Zeiten der Pandemie.
Wichtig ist:âDie Karnevalisten bezogen klar Position gegen rechtsâ, vermittelt der Westdeutsche Rundfunk auf seiner Webseite. âKamelle gegen Rechts: Rosenmontag in DĂŒsseldorf und Kölnâ lautet der Titel des WDR-Berichts, der auch die Zahl der Feiernden nennt: Eineinhalb Millionen Jecken in Köln und DĂŒsseldorf. Das Bild des Karnevalwagens mit den PappmachĂ©e-Viren kommentiert der WDR mit einem speziellen Sinn fĂŒr Humor so:âJeck ist hĂ€rterâ. Die Belustigungen der Einfaltspinsel im Karneval finden angemessene Resonanz im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.
âDirekt aus dem dpa-newskanalâ, also - wie so hĂ€ufig - unter Verzicht auf den Versuch eigener journalistischer Arbeit, berichtet die âSĂŒddeutsche Zeitungâ am 28. Februar 2020, vier Tage nach dem Rosenmontag, es befĂ€nden sich schĂ€tzungsweise 1000 Menschen im Kreis Heinsberg, dem westlichsten Kreis in Deutschland im Regierungsbezirk Köln, in hĂ€uslicher QuarantĂ€ne. Ein 100-köpfiger Krisenstab kĂ€mpfe gegen die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus. Auf einer Karnevalsveranstaltung am 15. Februar 2020, einer âKappensitzungâ, könnten sich etwa 400 Personen infiziert haben.15
âLustig, wie sie gelebt haben, liegen sie auch lustig im Grabe.â
âDa man in der ersten BestĂŒrzung an Ansteckung glaubte, und die Ă€lteren GĂ€ste des Hotel-Dieu...