Das FĂŒhrerprinzip
Thorsten Pehlmann
âHallo Patrick, Junge. Danke fĂŒr deine Hilfe. Das ging ja richtig flott.â
âKein Problem, Mama. FĂŒr euch bin ich doch immer da, weiĂt du doch. Ăh, wie gehtâs Papa?â, flĂŒsterte Patrick leise in der Wohnungsdiele seiner Eltern, lugte vorsichtig durch den offenen Spalt der angelehnten WohnzimmertĂŒr, konnte den Hinterkopf seines Vaters erkennen. Im Hintergrund des im Ikeastil eingerichteten Wohnzimmers flimmerte das Fernsehen. Die Nachrichten um neunzehn Uhr liefen gerade. Patricks Vater saĂ in seinem braunen Ledersessel, der einmal sehr schön und gepflegt aussah â vor mehr als zwanzig Jahren. Jetzt wies er viele Risse auf, an manchen Stellen kam das Futter heraus, das Marlies, seine Frau, notdĂŒrftig zu stopfen versucht hatte, mit mĂ€Ăigem Erfolg. Laut rauschte der Feierabendverkehr auf der B55, der HauptstraĂe, die mitten durch Borgheim fĂŒhrte, unter dem halboffenen Wohnzimmerfenster im zweiten Stock des Achtparteienhauses vorbei.
âWillst du die EinkaufstĂŒten denn ewig in der Hand halten, Junge? Bist mit deinen dreiĂig Jahren bald genauso zerstreut wie dein Herr Vater.â Leicht erschrocken zuckte Patrick zusammen, blickte in die dunklen Augen seiner Mutter, wĂ€hrend sie ihrem Sohn die gefĂŒllten EinkaufstĂŒten aus der Hand nahm. Ein LĂ€cheln huschte kurz ĂŒber das von Sorgenfalten durchzogene Gesicht. âKomm.â Schnell fasste sie Patrick bei der Hand, fĂŒhrte ihn in die KĂŒche, wo sie leise die TĂŒr hinter sich schloss. âDie Tabletten helfen im Augenblick sehr gut. Er hat weniger Schmerzen und sie stellen ihn ruhig, damit er sich nicht mehr so aufregt. Doktor Bernhards hat die Dosis erhöht. Aber an RĂŒckkehr in seinen Beruf ist wahrscheinlich nicht mehr zu denken. Seit dem tödlichen Unfall seines Kollegen auf der Baustelle ist dein Vater nicht mehr der Alte. Seine Depressionen werden immer schlimmer. Der Arzt meint, er mĂŒsste ihn eigentlich in eine Spezialklinik ĂŒberweisen, wo sie feststellen können, ob sein Knie eine Chance auf Heilung hat, aber das zahlt die Krankenkasse nicht, und da wir keine private Zusatzversicherung abgeschlossen haben ...â
âDie erste OP ...?â
âJa, ich weiĂ, die erste OP ist nicht so gut verlaufen, wie es sich die Ărzte erhofft hatten.â
âAber er kann das Knie doch wenigstens etwas besser bewegen nach der Therapie oder ...?â
Patricks Mutter schĂŒttelte den Kopf mit den kurzen, mittlerweile stark ergrauten Haaren. âEine Besserung, nein. Und die Firma behauptet immer noch, dass Papa am Unfall eine Mitschuld trĂ€gt. Gleichzeitig ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des toten Kollegen. Jetzt behauptet der Seniorchef auf einmal, dein Vater habe angeblich die Sicherheitsabsperrung nicht sachgemÀà installiert. Hier, das Schreiben von seinen AnwĂ€lten.â
WĂŒtend nahm Patrick den Brief entgegen, ĂŒberflog die Zeilen. âDas darf ja nicht wahr sein. Dabei war Papa fĂŒr die Absperrung an diesem Tag doch gar nicht zustĂ€ndig, sondern der Juniorchef, wie Papa mir selbst erklĂ€rt hat. AuĂerdem wollte er den Kollegen noch retten, ist dabei selbst in die tiefe Ausschachtung gefallen. Das haben die anderen Kollegen doch bestĂ€tigt. Mann, Papa hĂ€tte draufgehen können.â Patricks Kopf wurde hochrot, eine Hand ballte sich zur Faust. âEigentlich mĂŒsste man dieses Pack abknallen. Ohne Gnade mĂŒsste man ...â
âStopp. Du weiĂt, ich mag keine WutausbrĂŒche. Dein Vater reicht mir. AuĂerdem sind solche bösartigen SprĂŒche sinnlos. Gewalt ist kein Lösung, Junge.â Patricks Mutter stöhnte leise auf. âWarum bist du manchmal so blutrĂŒnstig, hm? Dein Vater war frĂŒher auch immer so.â Ein sanftes LĂ€cheln huschte ĂŒber ihr Gesicht, wĂ€hrend sie Patrick durch sein aschblondes Haar wuselte.
âDer Juniorchef soll gedeckt werden und dafĂŒr wollen sie Papa opfern, aber das lasse ich nicht zu!â Patrick sprach in erregter LautstĂ€rke. Ăngstlich öffnete seine Mutter die KĂŒchentĂŒr einen Spalt, lugte zur angelehnten WohnzimmertĂŒr rĂŒber, doch nichts regte sich dort. Behutsam schob sie die KĂŒchentĂŒr wieder ins Schloss.
âPatrick, was sollen wir denn tun? Wir hatten nie Geld fĂŒr eine gute Rechtsschutzversicherung, also kommt ein Rechtsstreit wegen der hohen Kosten fĂŒr uns nicht in Frage und zur BedĂŒrftigenberatung will dein Vater nicht, dafĂŒr ist er viel zu stolz. Ich bin froh, dass du uns mit den EinkĂ€ufen einmal pro Monat aushilfst, damit wir halbwegs ĂŒber die Runden kommen, seitdem die Krankenkasse das Krankengeld zahlt.â
Patrick war immer noch wĂŒtend. Warum dachte seine Muter nur so ... so klein, lieĂ sich alles gefallen? Auf jeden Fall wĂŒrde der Juniorchef von Ready-Bau, der gröĂten Baufirma in Borgheim und die Nummer Drei im ganzen Ruhrgebiet, sich aus der AffĂ€re ziehen, dafĂŒr wĂŒrden die gut bezahlten AnwĂ€lte schon sorgen.
Gerade wollte Patrick zu einer harten Entgegnung ansetzen, da schlug seine Mutter plötzlich die HĂ€nde vors Gesicht, begann bitterlich zu weinen. FĂŒr einige Sekunden stand der in dieser Situation hilflos wirkende Sohn einfach nur vor ihr und, starrte sie fassungslos an. So hatte er seine immer starke, vernĂŒnftige und positiv denkende Mutter in den ganzen dreiĂig Jahren noch nicht erlebt, obwohl sie als Familie schon einiges durchgemacht hatten. Die offensichtliche Hoffnungslosigkeit machte ihn zutiefst betroffen. Als flĂŒstere ihm eine unsichtbare Stimme vorwurfsvoll zu, seine Mutter endlich zu umarmen, kam Bewegung in den DreiĂigjĂ€hrigen. Sanft zog Patrick seine Mutter an die Brust, drĂŒckte sie liebevoll. Als er sich spĂ€ter von ihr verabschiedete, hielt sie ihn an den HĂ€nden fest, blickte ihm intensiv in seine blauen Augen. âMach keine Dummheiten, Junge. Die Welt steckt voller Ungerechtigkeiten, aber irgendwie schaffen wir es. Das haben wir doch immer.â Sie setzte ein positives LĂ€cheln zur Schau. Patricks Stimme wirkte emotionslos, seine Mimik undurchsichtig. âJa Mama, sicher. Irgendwie.â
âEy Heinrich, beweg deinen Arsch mit dem Stapler hier rĂŒber! Werner braucht Hilfe. Der Sattelzug muss bis vierzehn Uhr abgefertigt werden. Termingut! Gib Stoff, Alter, oder es rappelt!â
Ohne eine Erwiderung auf die niveaulose Art des Disponenten fuhr Patrick den gasbetriebenen Stapler zĂŒgig durch die groĂflĂ€chige Lagerhalle der Spedition und eilte dem Kollegen zu Hilfe. Gedanklich bei seinen Eltern, dachte er ĂŒber seinen letzten Besuch bei ihnen vor zwei Tagen nach. Dann erschien Michaela, die attraktive Nachbarin, vor seinem geistigen Auge. Ein bisschen SpaĂ fĂŒr den Sexhunger zwischendurch, so nannte er die Erotikbeziehung mit ihr, musste dabei breit grinsen. Alles andere kam fĂŒr ihn sowieso nicht in Frage. Unrealistische Vorstellungen vom Leben mit Heirat und FamiliengrĂŒndung erschien Patrick in der heutigen Zeit, wo jeder sich selbst der NĂ€chste war, nicht sinnvoll. Heute konnte sich ein normaler gewerblicher Arbeitnehmer mit vierwöchiger KĂŒndigungsfrist und tausendeinhundert Euro netto so ein Lebensmodell einfach nicht leisten. Wie viele Jobs mĂŒsste er sich denn zulegen, um seine Familie ausreichend versorgen zu können? Zwei Arbeitsstellen oder drei? Schwachsinn, wo sind deine Grenzen? Und wen traf die Schuld? Die beschissene Regierung, das gesamte Wirtschaftssystem, die GleichgĂŒltigkeit der Verantwortlichen der Gesellschaft aller Schichten und Bereiche mit ihrer sozialen Inkompetenz und gewollten Ungerechtigkeit um des eigenen Vorteils willen. Aber damit wĂŒrde bald Schluss sein, denn er, Patrick Heinrich, wĂŒrde ein Zeichen setzen in Borgheim, ein Leuchtfeuer der Erweckung und RĂŒckbesinnung auf die wahren Werte des Menschen im ganzen Ruhrgebiet, Werte, die sein Vater ihm in der Jugendzeit vor Augen gefĂŒhrt hatte. Die Zeit war endlich reif fĂŒr die Ernte, die Vorbereitungen konnten als abgeschlossen gelten.
âSag mal, hast du MĂŒll in den Ohren, oder was? Du sollst Werner beim Abladen des Sattelzugs helfen, nicht deinen Hintern breitsitzen!â Im ersten Augenblick beim GebrĂŒll des Disponenten aus drei Metern Entfernung zusammengezuckt, fuhr Patrick mit Vollgas an, umklammerte voller Wut das Lenkrad des Gabelstaplers. Er hatte ĂŒberhaupt nicht bemerkt, dass er völlig in Gedanken versunken den Stapler in eine Seitengasse des Hochregallagers gefahren und gestoppt hatte. Dem Disponenten jedoch entging nichts, spĂŒrte er noch jeden Mitarbeiter auf, der sich vor der Arbeit drĂŒcken wollte. Die Vollgummireifen von Patricks Gabelstapler drehten durch, hinterlieĂen einen breiten GummirĂŒckstand auf dem Boden der Lagerhalle. Das GebrĂŒll des Disponenten verfolgte Patrick bis an die Laderampe, als er an dem Vorgesetzten vorbeirauschte, doch er sagte wieder nichts. Nur jetzt nicht die Beherrschung verlieren, gar dem Drecksack nach Feierabend die Fresse polieren. Keinesfalls durfte Patrick irgendetwas aufs Spiel setzen. Sollten sie nur rumpöbeln, ihn fĂŒr einen dummen, feigen, stillen DuckmĂ€user halten, denn irgendwann bekam jeder seine Strafe. So wie damals. Damals vor sechzig Jahren.
Russland 1942
Mit sĂŒffisantem Blick wandte sich SS-ObergruppenfĂŒhrer Walter Zimmer dem gemischten Pulk von MĂ€nnern, Frauen und Kindern zu, bedeutete seinen Untergebenen, die Menschen zum Treffpunkt auĂerhalb des Dorfes zu bringen. Zwölf MĂ€nner der Einsatzgruppe C, in feldgrauen Uniformen gekleidet, drĂ€ngten die Gruppe zum Dorfausgang. Ihr Ziel war ein nahe gelegenes WĂ€ldchen. In der Ferne grollte dumpfes GeschĂŒtzfeuer, es wurde vom Wind mal stĂ€rker, mal schwĂ€cher herangetragen. Der Feind hatte das Dorf schnell gerĂ€umt, keinen groĂen Widerstand geleistet, und nachdem die Einheiten der Heeresgruppe SĂŒd vor drei Tagen nur so durchrauschten, trafen auch schon die MĂ€nner der Einsatzgruppe C ein, um ihre besondere Aufgabe fĂŒr das Deutsche Reich zu erfĂŒllen. Lediglich die ersten HĂ€user hatten einige BeschĂ€digungen durch Panzergranaten abbekommen, ansonsten war das Dorf intakt. âDie ahnen ĂŒberhaupt nicht, was ihnen blĂŒht.â Neben den SS-ObergruppenfĂŒhrer trat der zweiundzwanzigjĂ€hrige UnterfĂŒhrer Herbert Heinrich und fiel in Zimmers sarkastisches Lachen mit ein. GrĂŒne Augen, blondes Haar, nur ein kleiner Fehler im idealen Bild des von der ReichsfĂŒhrung glorifizierten Herrenmenschen. âSo ist es. Komm, darauf trinken wir einen.â Einem aufmerksamen Beobachter wĂ€re der gezwungene Ausdruck aufgefallen, den Heinrich mit seinem GelĂ€chter ĂŒberspielte. Der UnterfĂŒhrer trug eine volle Flasche Wodka in der Armbeuge. Dass die Mittagsstunde noch nicht angebrochen war, hielt die beiden Angehörigen der Einsatzgruppe nicht davon ab, sich einen krĂ€ftigen Schluck zu genehmigen. Direkt nachdem die Wehrmacht aus dem Dorf abgerĂŒckt war, hatte der um fĂŒnfzehn Jahre Ă€ltere Zimmer unter der jĂŒdischen Bevölkerung die Nachricht verbreiten lassen, sie sollten sich bis zum nĂ€chsten Mittag auf dem Dorfplatz zwecks Umsiedelung nach Oberschlesien einfinden, da die Region noch viele fleiĂige HĂ€nde in der Landwirtschaft benötigen wĂŒrde. Die meisten folgten dem Aufruf. Welche Tragik. Zimmer rĂŒlpste laut nach dem ersten Schluck, wischte sich kurz ĂŒber sein feistes Gesicht mit den wasserblauen Augen. âWie viele von dem Pack haben wir bis jetzt unter die Erde gebracht, Heinrich?â Der Angesprochene drĂŒckte seinem Vorgesetzten die Flasche in die Hand, zĂŒckte ein kleines Notizbuch, blĂ€tterte kurz in den Seiten. âWir sind mittlerweile vier Monate in diesem Abschnitt unterwegs ...â Heinrich ĂŒberflog die fein sĂ€uberlich aufgeschriebenen Zahlen, addierte die Ziffern, bis er mit gespielt stolzem Blick zum einen Kopf gröĂeren Zimmer aufblickte. âMein Lieber, wir waren richtig fleiĂig. Bis jetzt kommen wir auf 27.385 ,unerwĂŒnschte Elementeâ.â Als Antwort klopfte ihm Zimmer wohlwollend auf die Schulter, nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche, bevor er sie an Heinrich zurĂŒckgab. Immer öfter tranken sowohl er als auch Heinrich zu jeder Tageszeit. âUm Herr ĂŒber den Arbeitsstress zu werdenâ, wie sie es nannten. JĂ€mmerliche Ausreden, denn in Wirklichkeit suchten sie des nachts AlptrĂ€ume heim, AlptrĂ€ume von den vielen getöteten Juden, ihre Gesichter, die Schreie, als sie in den von ihnen selbst ausgehobenen GrĂ€bern von Maschinengewehrsalven durchsiebt wurden, sich einige Minuten spĂ€ter ihre Leichen ĂŒbereinander stapelten. Der ReichsfĂŒhrer SS Heinrich Himmler predigte die Ansicht, dass ein gestĂ€hlter deutscher Geist ĂŒber solche Belastungen erhaben sein mĂŒsse. SelbstverstĂ€ndlich vertraten die MĂ€nner der Einsatzgruppe C unter ihrem ObergruppenfĂŒhrer Zimmer diesen Standpunkt mit groĂem Enthusiasmus, doch irgendetwas machte den Herrenmenschen einen Strich durch die Rechnung. Welche GeiĂel bereitete dieser heroischen Gruppe so groĂe Schwierigkeiten bei ihrer wichtigen Arbeit, dass immer mehr Angehörige zum Alkohol als Allheilmittel griffen oder sogar Selbstmord begingen wie Hans Mertin, der sich erst vor drei Wochen eine Kugel durch den Kopf jagte? Mertins Suizid wurde natĂŒrlich totgeschwiegen, denn niemand wollte den Grund fĂŒr Mertins feigen Abgang in Erfahrung bringen. Wahre Herrenmenschen trotzten eben jeder Herausforderung. Trotz des starken, sinnumnebelnden Wodkas breitete sich in UnterfĂŒhrer Herbert Heinrichs Mund ein bitterer Beigeschmack aus.
Seit lĂ€ngerer Zeit beobachtete er die besorgniserregende Tendenz des erhöhten Alkoholkonsums an sich und an anderen Gruppenagehörigen. Als er ObergruppenfĂŒhrer Zimmer vor einigen Wochen darauf ansprach, schrie der ihn nur an: âMann, Heinrich, halt gefĂ€lligst dein blödes Maul! Wir sind Deutsche! Ein deutscher Mann wird gestĂ€hlt im Feuer des Kampfes. Piss dir nicht in die Hosen. Unsere Aufgabe hier ist wichtig, verstehst du? Oder machst du dir etwa Gedanken ĂŒber dieses Dreckspack von Juden, hĂ€h?â
âNein, nein, wo denkst du hin, natĂŒrlich nicht. Aber ich mache mir Sorgen, Ă€h Sorgen ĂŒber die Zielsicherheit unserer MĂ€nner bei den ErschieĂungen.â So hatte er geantwortet. Und Zimmer hatte ihm daraufhin anerkennend auf die Schulter geklopft, wie er es so oft tat, nannte Herbert Heinrich eine âgute rechte Handâ. Heinrich wusste es besser. Er kannte die GeiĂel, die sie alle, die gesamte Gruppe einschlieĂlich Zimmer, in ihren Klauen hielt. Eine unbarmherzige, brutale GeiĂel, so boshaft und tĂŒckisch wie sie selbst, wenn sie auf die Jagd nach Untermenschen und anderen âunerwĂŒnschten Elementenâ gingen. Ja, die GeiĂel besaĂ einen Namen: Gewissen.
Ein SS-Mann salutierte zackig vor Zimmer und unterbrach Heinrichs GedankengĂ€nge. âDas mĂŒssten alle sein, Herr ObergruppenfĂŒhrer.â
âSchön.â Und an Heinrich gewandt sagte Zimmer: âNa dann wollen wir mal ein paar Bleigeschenke verteilen, oder Heinrich, was meinst du?â
Ohne Antwort marschierte Herbert neben seinem Vorgesetzten ins nahe gelegene WĂ€ldchen, nahm immer gröĂere Schlucke aus der Wodkaflasche. Trotz der langsam einsetzenden BetĂ€ubung des Alkohols wurde ihm schlecht. Am Sammelpunkt angekommen, befand sich eine groĂe Menschenansammlung aller Altersgruppen dicht gedrĂ€ngt in einem Graben. Die Abmessung des Grabens belief sich auf zwei Meter Breite und Tiefe und fĂŒnfzig Meter LĂ€nge. Einige mĂ€nnliche Personen der groĂen Menschentraube hielten noch die Spaten in den HĂ€nden, die ihnen jetzt aber auf Anweisung des ObergruppenfĂŒhrers abgenommen wurden. Am Rande rings um den Graben nahmen fĂŒnfzig MĂ€nner des Kommandos mit Maschinenpistolen im Anschlag ihre Positionen ein. Viele Menschen aus dem Pulk waren verĂ€ngstigt, Kinder weinten laut, MĂŒtter drĂŒckten ihre SĂ€uglinge an die Brust, als könnten sie ihre SchĂŒtzlinge mit dieser Geste vor dem aufkommenden Unheil schĂŒtzen. Die meisten wussten, was ihnen bevorstand, aber ein Ă€lterer Herr, bekleidet mit einem feinen schwarzen Mantel und schwarzem Hut nĂ€herte sich dem Rand des Grabens, wo Walter Zimmer Aufstellung genommen hatte. Beide HĂ€nde beschwörend erhoben, sah er den ObergruppenfĂŒhrer bittend an. Herbert Heinrich neben ihm bekam vor Scham einen roten Kopf, setzte die Wodkaflasche an die Lippen und trank den verbliebenen Rest in einem Zug leer. Seine Ăbelkeit stieg ins Unermessliche, er glaubte, sich augenblicklich ĂŒbergeben zu mĂŒssen.
âHerr ObergruppenfĂŒhrer, ich bitte Sie flehentlich, lassen Sie wenigstens die Frauen und Kinder am Leben. Bitte!â Obwohl Russe, sprach der Mann einwandfreies Deutsch. Doch Zimmer ignorierte den Auftritt des Mannes geflissentlich, hatte nur Augen fĂŒr die zwei goldenen Ringe an den HĂ€nden des Ă€lteren Herrn. Der bemerkte Zimmers gierige Mine, zog sich den Handschmuck augenblicklich von den Fingern, streckte sie dem ObergruppenfĂŒhrer auf der flachen Hand entgegen. Herrisch sah Zimmer ĂŒber den alten Mann hinweg, beugte sich plötzlich hinab, grabschte nach dem Schmuck. Ein diebisches Grinsen huschte ĂŒber sein Gesicht, als er Heinrich die Ringe zeigte und ihm einen in die Hand drĂŒckte. âBei mir wird brĂŒderlich geteilt, Herr UnterfĂŒhrer. DafĂŒr bist du heute mit dem Fangschuss dran.â Heinrich stockte der Atem.
âAber ich war doch erst vor fĂŒnf Tagen ...â
âNichts da, mein Lieber.â Zimmers linker FuĂ schoss vor, stieĂ den kultivierten Ă€lteren Mann rĂŒcklings in die dicht gedrĂ€ngte Menschentraube im Graben zurĂŒck. Er lachte. Ohne weitere EinwĂ€nde von Heinrich abzuwarten, hob OberfĂŒhrer Walter Zimmer den rechten Arm zum deutschen GruĂ, dass allseits verabredete Zeichen fĂŒr seine MĂ€nner zu feuern. Intuitiv erkannten die Menschen im Graben, was ihnen bevorstand. Die Masse wogte hin und her. Vor Angst schrien die Kinder mit ihren MĂŒttern und jungen Frauen noch lauter, wĂ€hrend Ă€ltere sich stumm ihrem Schicksal ergaben. Ungeachtet der eisigen KĂ€lte rissen sich einige Frauen die Blusen auf, stĂŒrzten an den Grabenrand, boten sich ihren Henkern an. Auf den Gesichtern der arbeitsfĂ€higen MĂ€nner trat ein verbissener Ausdruck im Angesicht des Todes, mancher wollte schon voll mutiger Entschl...