1
Die Reichweite von ErklÀrungen
Hinter alldem steckt sicherlich eine Idee, die so einfach, so schön ist, dass, wenn wir sie begreifen â in einem Jahrzehnt, einem Jahrhundert oder einem Jahrtausend â, wir einander sagen werden: Wie hĂ€tte sie sonst lauten können?
john archibald wheeler,
Annals of the New York Academy of Sciences, 480 (1986)
Mit bloĂem Auge sieht das Universum jenseits unseres Sonnensystems wie ein paar Tausend glĂŒhende Flecken am Nachthimmel aus â dazu die schwachen, verschwommenen Streifen der MilchstraĂe. Wenn man jedoch einen Astronomen fragt, was sich dort drauĂen wirklich befindet, wird er einem nicht von Flecken oder Streifen erzĂ€hlen, sondern von Sternen: Kugeln glĂŒhenden Gases, die Millionen von Kilometern im Durchmesser groĂ und Lichtjahre von uns entfernt sind. Er wird einem sagen, dass die Sonne ein gewöhnlicher Stern ist und nur deshalb anders aussieht als die anderen Sterne, weil wir ihr viel nĂ€her sind â aber doch ungefĂ€hr 150 Millionen Kilometer von ihr entfernt. Trotz dieser unvorstellbaren Entfernungen sind wir zuversichtlich, dass wir wissen, was die Sterne zum Leuchten bringt: Er wird einem sagen, dass sie von der Kernenergie angetrieben werden, die durch Transmutation freigegeben wird â also durch die Umwandlung eines Elements in ein anderes (hauptsĂ€chlich Wasserstoff in Helium).
Auf der Erde geschehen einige Transmutationen spontan beim Zerfall radioaktiver Elemente. Dies zeigten die Physiker Frederick Soddy und Ernest Rutherford zum ersten Mal im Jahre 1901, doch das Konzept hinter der Transmutation war schon damals uralt. Alchemisten hatten jahrhundertelang davon getrĂ€umt, âșunedle Metalleâč wie Eisen oder Blei in Gold zu verwandeln. Da sie nie auch nur ansatzweise verstanden, wie sie dies erreichen könnten, taten sie es nie. Naturwissenschaftlern im 20. Jahrhundert gelang es jedoch, und Sterne tun es auch, wenn sie in einer Supernova explodieren. Unedle Metalle lassen sich sowohl von Sternen als auch von intelligenten Wesen, die die AntriebsvorgĂ€nge von Sternen verstehen, in Gold verwandeln, aber von nichts anderem im Universum.
Ăber die MilchstraĂe wird der Astronom einem sagen, dass sie das massereichste Objekt ist, das wir mit bloĂem Auge sehen können, auch wenn sie unerheblich scheint: eine Galaxie, die aus Hunderten Milliarden Sternen besteht, die alle ĂŒber Zehntausende Lichtjahre hinweg gravitationsgebunden sind. Wir sehen die MilchstraĂe von innen, weil wir ein Teil von ihr sind. Er wird einem sagen, dass es im Universum trotz der ruhigen Erscheinung des Nachthimmels von gewaltsamen Geschehnissen nur so wimmelt. Selbst ein gewöhnlicher Stern verwandelt pro Sekunde Millionen Tonnen von Masse in Energie, wobei jedes Gramm so viel Energie freigibt wie eine Atombombe. Er wird einem sagen, dass innerhalb der Reichweite unserer besten Teleskope, die mehr Galaxien sehen können, als es Sterne in unserer MilchstraĂe gibt, mehrere Supernova-Explosionen pro Sekunde stattfinden, von denen jede fĂŒr einen Moment heller ist als alle anderen Sterne in ihrer Galaxie zusammen. Da wir nicht wissen, ob und wo Leben auĂerhalb unseres Sonnensystems existiert, wissen wir ebenso wenig, wie viele dieser Explosionen furchtbare Tragödien sind. Wir wissen jedoch, dass eine Supernova alle Planeten in ihrer Umlaufbahn verwĂŒstet und damit auch alles Leben ausradiert, das es dort geben mag â jedwede intelligenten Wesen eingeschlossen, sofern sie mit ihrer Technologie der unseren nicht weit voraus sind. Allein die Neutrinostrahlung wĂŒrde einen Menschen auf eine Entfernung von Milliarden von Kilometern töten, selbst wenn die gesamte Strecke aus einer Bleiabschirmung bestĂŒnde. Und doch verdanken wir unsere Existenz den Supernovae: Ihre Transmutationen sind die Quelle fast aller Elemente, aus denen unsere Körper und unser Planet bestehen.
Es gibt PhĂ€nomene, die Supernovae in den Schatten stellen. Im MĂ€rz 2008 erkannte ein in der Erdumlaufbahn befindliches Röntgenteleskop eine 7,5 Milliarden Lichtjahre entfernte Explosion, die als âșGammastrahlenausbruchâč bekannt ist. Diese Entfernung entspricht der halben Strecke durch das gesamte bekannte Weltall. Es war wahrscheinlich ein einziger Stern, der zu einem schwarzen Loch kollabiert ist â ein Objekt, dessen Gravitation so stark ist, dass selbst Licht nicht aus seinem Inneren entfliehen kann. Die Explosion an sich war heller als eine Million Supernovae und wĂ€re selbst mit bloĂem Auge von der Erde aus sichtbar gewesen â wenn auch nur schwach und nur fĂŒr ein paar Sekunden, weswegen sie hier wahrscheinlich von niemandem gesehen wurde. Supernovae halten lĂ€nger an: Normalerweise verblassen sie nach Monaten. Dies ermöglichte es Astronomen, einige von ihnen sogar vor der Erfindung des Teleskops in unserer Galaxie zu sehen.
Eine weitere Klasse kosmischer Monstren spielt in einer höheren Liga. Dabei handelt es sich um die intensiv leuchtenden Objekte, die als Quasare bekannt sind. Sie sind zwar zu weit entfernt, um sie mit bloĂem Auge zu erkennen, können jedoch eine Supernova fĂŒr Millionen Jahre in den Schatten stellen. Sie werden von massiven schwarzen Löchern, in die interstellares Gas fĂ€llt, mit Energie versorgt. In die hellsten Quasare stĂŒrzt alle paar Tage die Masse, die einem gewöhnlichen Stern entspricht. Gelegentlich werden ganze Sterne verschlungen, die dabei von GezeitenkrĂ€ften zerfetzt werden. Starke Magnetfelder leiten einen Teil der Gravitationsenergie in Form von Strahlen hochenergetischer Teilchen wieder hinaus, und diese Strahlen beleuchten das umgebende Gas mit der Kraft von einer Billion Sonnen.
Im Inneren des schwarzen Lochs (unter der OberflĂ€che, unter der man nicht entfliehen kann und die als âșEreignishorizontâč bekannt ist), wo das RaumzeitgefĂŒge womöglich zerrissen wird, sind die Bedingungen noch extremer. All das geschieht in einem unermĂŒdlich expandierenden Universum, das vor ungefĂ€hr vierzehn Milliarden Jahren mit einer allumfassenden Explosion begann, dem Urknall, der alle anderen PhĂ€nomene, die ich beschrieben habe, sanft und unbedeutend erscheinen lĂ€sst. Und dieses ganze Universum ist lediglich ein kleiner Teil einer enorm gröĂeren EntitĂ€t, des Multiversums, das eine riesige Zahl solcher Universen einschlieĂt.
Die physische Welt ist nicht nur viel gröĂer und brutaler, als sie frĂŒher einmal schien, sondern auch viel reicher an Details, Vielfalt und Ereignissen. Alles gehorcht dabei eleganten physikalischen Gesetzen, die wir bis zu einem gewissen Grade verstehen. Ich weiĂ nicht, was groĂartiger ist: die PhĂ€nomene selbst oder die Tatsache, dass wir so viel ĂŒber sie wissen.
Woher wissen wir, was wir wissen? Eine der bemerkenswertesten Tatsachen ĂŒber die Wissenschaft ist der Kontrast zwischen der enormen Reichweite sowie Kraft unserer besten Theorien und den unsicheren lokalen Mitteln, mit denen wir sie erschaffen. Kein Mensch war jemals an der OberflĂ€che eines Sterns, geschweige denn im Kern, wo die Transmutation stattfindet und Energie erzeugt wird. Und doch sehen wir diese kalten Flecken an unserem Himmel und wissen, dass wir die weiĂ glĂŒhenden OberflĂ€chen weit entfernter Kernfusionskraftwerke betrachten. Physikalisch besteht diese Wahrnehmung aus nichts als der Reaktion unserer Gehirne auf elektrische Impulse unserer Augen, und Augen können nur das Licht erfassen, das sich zurzeit in ihnen befindet. Die Tatsache, dass das Licht aus sehr groĂer Entfernung und vor langer Zeit ausgestrahlt wurde und dass dort noch viel mehr passiert ist als nur die Ausstrahlung von Licht â nichts davon sehen wir. Wir wissen es nur aus der Theorie.
Wissenschaftliche Theorien sind ErklĂ€rungen: Aussagen darĂŒber, was es da drauĂen gibt und wie es sich verhĂ€lt. Woher stammen diese Theorien? WĂ€hrend des GroĂteils der Wissenschaftsgeschichte glaubte man fĂ€lschlicherweise, wir leiteten sie aus den Tatsachenmaterialien unserer Sinne ab. Dabei handelt es sich um eine philosophische Lehre, die als Empirismus bekannt ist:
Empirismus
Der Philosoph John Locke bemerkt zum Beispiel im Jahre 1689, der Verstand sei wie âșweiĂes Papierâč, auf das die Sinneswahrnehmungen schrieben, und darin liege die Quelle all unseres Wissens ĂŒber die physische Welt. Eine weitere empiristische Metapher besagt, man könne Wissen aus dem âșBuch der Naturâč ablesen, indem man Beobachtungen anstelle. In jedem Fall sei der Entdecker des Wissens sein passiver EmpfĂ€nger, nicht sein Schöpfer.
Doch in Wirklichkeit werden wissenschaftliche Theorien von nichts âșabgeleitetâč. Wir lesen sie weder in der Natur, noch schreibt die Natur sie in uns hinein. Sie sind MutmaĂungen â kĂŒhne Vermutungen. Der menschliche Verstand erschafft sie, indem er bereits vorhandene Ideen mit der Absicht, sie zu verbe...