Ein Jahr zum Vergessen
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Ein Jahr zum Vergessen

Wie wir die Bildungskatastrophe nach Corona verhindern

Klaus Zierer

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  1. 128 pages
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Ein Jahr zum Vergessen

Wie wir die Bildungskatastrophe nach Corona verhindern

Klaus Zierer

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Eine der derzeit drĂ€ngendsten Fragen zu den Folgen der Coronapandemie lautet: Welchen Einfluss haben Schulschließungen mit Distanzunterricht auf die Bildung der Millionen SchĂŒlerinnen und SchĂŒler?AussagekrĂ€ftigeUntersuchungen dazu werden hierzulande zu selten durchgefĂŒhrt, vergleichende Leistungserhebungen gibt es kaum.Und dort, wo sie geplant waren, werden sie sogar noch abgesagt.So drĂ€ngt sich die Frage auf, ob die Verantwortlichen ĂŒberhaupt wissen wollen, was die Schulschließungen angerichtet haben.Der Erziehungswissenschaftler und Professor fĂŒr SchulpĂ€dagogik Klaus Zierer hat daher eine Analyse der vorliegenden Daten aus vergleichbaren LĂ€ndern vorgenommen und kommt zu alarmierenden Befunden. Homeschooling und Unterrichtsausfall haben teilweise verheerende Auswirkungen nicht nur auf den Bildungsstand, sondern auch auf die körperliche und emotionale Verfassung von SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern.Klaus Zierer erarbeitet konkrete VorschlĂ€ge, fĂŒr die es höchste Zeit ist, soll eine Bildungskatastrophe abgewendet werden.

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Informations

Éditeur
Verlag Herder
Année
2021
ISBN
9783451825859
Édition
1
Sous-sujet
Soziologie

1. Die Coronapandemie und die Maßnahmen gegen sie aus pĂ€dagogischer Sicht

Seit geraumer Zeit hĂ€lt die Coronapandemie die Welt in Atem. Die ergriffenen Maßnahmen wirken nicht immer wie erhofft und ziehen KollateralschĂ€den nach sich, die nicht unbeachtet bleiben dĂŒrfen. Denn bei aller Dringlichkeit, die Gesundheit der Menschen zu schĂŒtzen: Gesundheit hat neben der körperlichen Unversehrtheit auch eine psychische und soziale Komponente, und alle drei hĂ€ngen voneinander ab. Ein Mensch beispielsweise, der körperlich gesund ist, kann dennoch krank sein, wenn er psychische Leiden hat oder sozial isoliert ist – das Umgekehrte gilt natĂŒrlich entsprechend. Nicht selten fĂŒhrt dann eine Krankheitserscheinung in den genannten Bereichen dazu, dass die Gesundheit des Menschen insgesamt Schaden nimmt: Aus körperlicher Versehrtheit kann eine psychische Störung folgen, aus einer psychischen Belastung können körperliche BeeintrĂ€chtigungen erwachsen usw. Dieser Gesundheitsbegriff gilt im ĂŒbertragenen Sinn ebenso fĂŒr Systeme wie die Familie, die Wirtschaft oder die Schulen.
Blickt man auf die Schulen, so mehren sich die Hinweise, dass eine Bildungskatastrophe droht und vor allem Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Milieus besonders betroffen sind. Zweifelsfrei ist gerade in Deutschland die Bildungsschere immer schon beachtlich, was nicht zuletzt mit der Vielfalt der kulturellen PrĂ€gung in den ElternhĂ€usern zu tun hat – Bildungsungleichheiten sind somit ein Teil des pĂ€dagogischen KerngeschĂ€ftes. Aber die schulischen Maßnahmen, die zur EindĂ€mmung der Coronapandemie ergriffen wurden, haben diese Situation massiv verschĂ€rft und tun dies noch weiter. Bildungsungerechtigkeit nimmt also massiv zu. Eine Bildungskatastrophe droht.
Nun wĂ€re es falsch, der Bildungspolitik vorzuwerfen, nichts getan zu haben. Ganz im Gegenteil: Es ist viel unternommen und auch viel Geld ausgegeben worden. Aber wie so oft ist zu erkennen: Bildungserfolg stellt sich nicht allein deswegen ein, weil das Bildungssystem eine Finanzspritze erhĂ€lt. Zudem fĂŒhrt nicht jede noch so gut gemeinte Maßnahme zum Erfolg – vor allem dann nicht, wenn sie nicht zu Ende gedacht worden ist und die betroffenen Akteure nicht angemessen mitgenommen werden. Dies sind allen voran die Lernenden, die Lehrpersonen und die Eltern. Bildung ist eine der wichtigsten Aufgaben einer Gesellschaft, weil sie der Garant fĂŒr ökonomischen, ökologischen und sozialen Wohlstand ist. Und Bildung ist auch eine komplexe Angelegenheit und fordert alle Beteiligten.
Allein schon der Versuch, den Bildungsbegriff zu bestimmen, schreckt viele ab. Dem Diskurs tut dies nicht gut. Denn die Klarheit in den Begriffen geht einher mit der Klarheit im Denken und der Klarheit im Handeln. Ohne ein umrissenes Leitmotiv lĂ€sst sich keine Bildungspolitik betreiben. Insofern ist es unumgĂ€nglich, den Begriff der Bildung zu skizzieren und darauf aufbauend auf die bereits angesprochenen Begriffe der Bildungsungleichheiten und der Bildungsgerechtigkeit einzugehen. Beide sind heute politische Kampfbegriffe und werden in Wahlen immer wieder hervorgeholt. Trotz einer damit verbundenen AlltĂ€glichkeit, einfach zu verstehen sind sie nicht: Was sind schon Ungleichheiten? Was ist Gerechtigkeit? Und wie lĂ€sst sich beides in Verbindung mit dem Bildungsbegriff verstehen? Auch von einer Bildungskatastrophe ist nicht zum ersten Mal die Rede, ich werde die in Deutschland schon einmal gefĂŒhrte Debatte zu diesem Begriff nachzeichnen. Diese historische RĂŒckschau ist hilfreich, ja notwendig, um die Gegenwart besser zu verstehen und schlĂŒssige Konzepte fĂŒr die Zukunft formulieren zu können.
Es sind drei Teilaspekte, die im Folgenden beleuchtet werden und damit den Grundstein fĂŒr das vorliegende Buch legen: erstens die Skizzierung der Maßnahmen im pĂ€dagogischen Bereich, die zur EindĂ€mmung der Coronapandemie ergriffen worden sind. Zweitens die RĂŒckschau auf die Bildungskatastrophe in den 1960er Jahren. Und drittens die KlĂ€rung der Begriffe Bildung, Bildungsungleichheiten und Bildungsgerechtigkeit.

Schulschließungen als Bildungskatastrophe?

Als am 31. Dezember 2019 eine neue Form einer LungenentzĂŒndung in Wuhan, China, bestĂ€tigt wurde, kam es zwar weltweit zu einer Berichterstattung in den Medien, aber weitere politische Maßnahmen wurden noch nicht ergriffen. Erst als sich die Erkrankung unter dem Namen COVID-19 in China zu einer Epidemie entwickelte und schnell ĂŒber die ganze Welt Ausbreitung fand, reagierten alle LĂ€nder auf diese Situation. Die sogenannte Coronapandemie war fortan bestimmend in allen Regionen und in allen Bereichen des Lebens.
Neben Abstand halten, Hygiene beachten und im Alltag Maske tragen, bekannt als AHA-Regeln, kam es seit MĂ€rz 2020 in vielen LĂ€nder immer wieder zu Lockdown-Maßnahmen, in denen das öffentliche Leben weitestgehend heruntergefahren wurde. Auch Schulen waren davon betroffen und wurden fĂŒr lĂ€ngere Zeit geschlossen – teils fĂŒr mehrere Wochen, teils fĂŒr mehrere Monate, teils bis heute. Das Ziel der Maßnahmen liegt auf der Hand: Soziale Kontakte sollen begrenzt werden, um die Ausbreitung des Virus einzudĂ€mmen. Um dennoch den Bildungs- und Erziehungsauftrag umsetzen zu können, wurde dort, wo es möglich war, Distanzunterricht angeboten. In den Medien hat sich hierfĂŒr schnell der Begriff „Homeschooling“ etabliert. Auch wenn er fĂŒr Deutschland irrefĂŒhrend ist, weil ein Hausunterricht nicht erlaubt ist, trifft er den Kern des Problems: Die Grenzen zwischen dem familiĂ€ren System und dem Schulsystem verschwimmen, was vielerorts fĂŒr große Herausforderungen sorgte. So sahen sich manche Familien gut gerĂŒstet, ihre Kinder beim Lernen zu unterstĂŒtzen, wĂ€hrend andere daran scheiterten. Dass es vor allem bildungsferne Milieus und sozial benachteiligte Familien schwerer haben, ist hinlĂ€nglich bekannt und liegt angesichts der zahlreichen Studien zu Bildungsungleichheiten nahe.
Auch in Deutschland kam es zu Schulschließungen. Bis heute sind sie ab einer bestimmten Inzidenz das Mittel der Wahl. Begleitet wurden Schulschließungen von einem Digitalisierungsschub, der sich auf die Ausstattung von Schulen und auf die AufrĂŒstung der Kinderzimmer konzentrierte. ZusĂ€tzlich zu den fĂŒnf Milliarden Euro des „DigitalPakt Schule“ aus dem Jahr 2018, die bis heute nicht vollstĂ€ndig abgerufen sind, stellte der Bund 500 Millionen Euro im Sommer 2020 zur VerfĂŒgung, um Lernende mit Tablets auszustatten. Derselbe Betrag kam nochmals obendrauf, um Lehrpersonen ein DienstgerĂ€t in die Hand zu drĂŒcken. Viele BundeslĂ€nder legten noch weiter nach. Daneben wurden Masken angeschafft, SpuckschutzwĂ€nde aufgebaut, Leitsysteme aufgezeichnet und teilweise Raumfilter und LĂŒftungsanlagen installiert. Neben PrĂ€senzunterricht und Distanzunterricht kam als weitere Form der Beschulung der Wechselunterricht hinzu, bei dem die Klasse halbiert wird und somit weniger Kinder in der Schule sind. AbschlussjahrgĂ€nge kamen generell schneller in die Schulen als andere. Mit diesen Maßnahmen war die bildungspolitische Hoffnung verbunden, dass genug getan worden ist, um auch in Pandemiezeiten fĂŒr Bildungserfolg zu sorgen – und zwar fĂŒr alle Lernenden.
Nimmt man allein die Zeiten, in denen Kinder und Jugendliche nicht in der Schule waren, so kommen schnell einige Wochen zusammen. Je nach Alter der Lernenden, Bundesland und Inzidenzwerten blicken manche auf ein Jahr zurĂŒck, in dem sie mehr Zeit zuhause verbrachten als in der Schule. Insofern sind bei dieser Generation bereits zwei Schuljahre massiv durch die Coronapandemie betroffen. Dass all das auf Dauer nicht ohne Folgen bleibt, wurde bildungspolitisch lange ignoriert. SpĂ€ter kamen Lippenbekenntnisse hinzu: Nach den ersten Schulschließungen im FrĂŒhjahr 2020 dĂŒrften Kinder nicht nochmals die Leidtragenden sein, und Schulen mĂŒssten offen bleiben, hieß es allerorten. Die RealitĂ€t holte dieses Gerede schnell ein. WĂ€hrend die Industrie weiter produzierte und der Fußball im Profibereich rollte, mussten Kinder und Jugendliche wieder allein vor den Bildschirmen lernen. Bis heute verwundern Aussagen von so manchem MinisterprĂ€sidenten, dass das alles doch bestens funktioniere.
Derweil muss man nur in bildungsferne Milieus blicken, sozial benachteiligte Familien aufsuchen oder mit Kindern und Jugendlichen sprechen. Sie leiden unter der Situation. Zudem gibt es immer mehr Studien, die das Ausmaß des Dramas vor Augen fĂŒhren. Denn nicht nur die Lernleistungen gehen zurĂŒck, sondern es kommt auch zu einer Zunahme von psychischen und psychosomatischen Krankheitsbildern sowie zu körperlichen BeeintrĂ€chtigungen. Die psychische, physische und soziale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sind betroffen.
Ebenso wie in der medizinischen BekÀmpfung der Coronapandemie ist es daher höchste Zeit, auch im pÀdagogischen Bereich endlich auf die Wissenschaft zu hören. Aber allzu viel Zeit bleibt nicht mehr. Die Bildungskatastrophe ist im vollen Gang.
Vielleicht mag der Einwand kommen, dass es alarmistisch sei, von Bildungskatastrophe zu sprechen. Denn so schlimm sei doch alles nicht. Dem ist zweierlei entgegenzuhalten: Zum einen ist das ganze Ausmaß der Bildungskatastrophe empirisch zu belegen, was im zweiten Kapitel des vorliegenden Buches getan wird. Zum anderen ist festzustellen, dass der Begriff der Bildungskatastrophe in Deutschland bereits eine Geschichte hat und als Triebfeder einer Debatte diente, deren Ausgangssituation durchaus bedrohlich war. Aber im Vergleich zur aktuellen Situation erscheint sie harmlos. Denn die MissstĂ€nde von damals sind nicht einmal im Ansatz mit denjenigen von heute vergleichbar. Nicht umsonst hat der Bund im FrĂŒhjahr 2021 verkĂŒndet, eine Milliarde Euro fĂŒr ein Nachhilfeprogramm bereitzustellen. Das Bewusstsein fĂŒr die Probleme scheint von Tag zu Tag deutlicher zu werden.

Die Bildungskatastrophe der 1960er Jahre – und die Lehren daraus

Es war in erster Linie der PĂ€dagoge, Philosoph und Theologe Georg Picht (1913–1982), der den Begriff der Bildungskatastrophe einfĂŒhrte. Ausgangspunkt war eine Artikelserie in der Wochenzeitung Christ und Welt im Jahr 1964. Diese zĂ€hlte damals zu den auflagenstĂ€rksten und einflussreichsten Printmedien der noch jungen Bundesrepublik Deutschland. In seinen BeitrĂ€gen analysierte Georg Picht das deutsche Bildungssystem mithilfe umfangreicher Daten. Seine Diagnose war eindeutig: Deutschland stehe vor einer Bildungskatastrophe, die zu gravierenden Nachteilen im internationalen Vergleich fĂŒhren werde und sogar eine GefĂ€hrdung der Demokratie zur Folge haben könne.
Die GrĂŒnde fĂŒr die Bildungskatastrophe sah Georg Picht mindestens in den folgenden vier Punkten: Erstens stellte er einen Lehrermangel fest, der auf Dauer zu grĂ¶ĂŸeren Nachteilen fĂŒhrte. Zweitens kritisierte er, dass es zu wenig Abiturientinnen und Abiturienten gab. Drittens mahnte er wegen einer ungerechten Verteilung von Bildungschancen. Und viertens bemĂ€ngelte er Konstruktionsfehler in der Steuerung und Verwaltung des Bildungssystems, die all die genannten Punkte noch weiter verschĂ€rften.
Gegen diesen Bildungsnotstand formulierte Georg Picht ein Notstandsprogramm. In diesem erarbeitete er VorschlĂ€ge zur Organisation des Bildungswesens, zur Modernisierung des lĂ€ndlichen Schulwesens, zur Verdoppelung der Abiturientenzahl, zur Vermehrung der Lehrpersonen an Gymnasien und auch an den Volksschulen sowie zur Neuordnung der Kultusverwaltung. Sein damaliges Fazit lautete: „Jedes Volk hat das Bildungswesen, das es verdient. Noch ist es möglich, zu verhindern, dass die Bildungskatastrophe in ihrer vollen Gewalt ĂŒber uns hereinbricht. Deutschland kann als Kulturstaat noch erhalten bleiben. Dazu bedarf es aber einer entscheidenden Wendung.“
Mit dieser Zustandsbeschreibung des deutschen Bildungswesens war Georg Picht nicht allein. Eine Reihe von namhaften Personen der damaligen Zeit stĂŒtzten seine Überlegungen. Allen voran ist an dieser Stelle Ralf Dahrendorf zu nennen, der nicht nur zu den fĂŒhrenden Soziologen in den 1960er Jahren zĂ€hlte, sondern auch politisch durch sein Engagement in der FDP grĂ¶ĂŸeren Einfluss nehmen konnte. In seinem Werk „Bildung ist BĂŒrgerrecht“ (1965) untermauerte er die Position von Georg Picht und prĂ€gte darin auch die bekannte Formel fĂŒr damalige Benachteiligung im Bildungssystem: das katholische ArbeitermĂ€dchen vom Land, vergleichbar wohl heute dem Jungen mit Migrationshintergrund aus der Großstadt. Die Diskussionen, die Georg Picht und Ralf Dahrendorf angestoßen haben, nahmen weitreichenden Einfluss auf die damalige Bildungspolitik. Nur zwei Maßnahmen seien genannt, die damit in Verbindung zu bringen sind:
Erstens wurde im Jahr 1965 der Deutsche Bildungsrat von Bund und LĂ€ndern ins Leben gerufen, um fĂŒr das deutsche Bildungswesen Bedarfs- und EntwicklungsplĂ€ne zu erstellen. Darauf aufbauend wurden StrukturvorschlĂ€ge gemacht und Empfehlungen fĂŒr langfristige Planungen ausgesprochen. Besonders einflussreich war der im Jahr 1970 vorgelegte „Strukturplan fĂŒr das Bildungswesen“, dessen Wirkung bis in die Gegenwart reicht. Bis auf die Hochschulen wurden nahezu alle Bereiche des Bildungssystems in den Blick genommen. Aus heutiger Sicht ist diese Publikation ein Zeugnis fĂŒr die bildungspolitische Aufbruchsstimmung, die nach den studentischen Unruhen von 1968 und infolge der sozialliberalen Koalition seit 1969 herrschte.
Zweitens wurde im Jahr 1970 die Bund-LĂ€nder-Kommission fĂŒr Bildungsplanung und Forschungsförderung einberufen. Sie war bis Ende 2007 das stĂ€ndige GesprĂ€chsforum fĂŒr Fragen des Bildungswesens und der Forschungsförderung, die Bund und LĂ€nder gleichermaßen betrafen. Die Kommission gab sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene Empfehlungen zur Bildungsplanung und Forschungsförderung.
Auch wenn zunĂ€chst große Euphorie herrschte und sich einiges an VerĂ€nderungen einstellte, die Reformen im Bildungsbereich kamen schneller zum Erliegen, als viele damals gedacht hatten. Mit zunehmender Distanz mehrten sich auch die Stimmen, dass so manche Reformen das Ziel der Abwehr einer Bildungskatastrophe verfehlten, ja selbst die Diagnose von Georg Picht und Ralf Dahrendorf wird heute nicht uneingeschrĂ€nkt geteilt.
Versucht man dennoch aus der damaligen Debatte um das deutsche Bildungswesen Schlussfolgerungen zu ziehen, die heute noch von Bedeutung sind, so zeigen sich drei Punkte: Erstens ist es wichtig, dass jede Generation aufs Neue fĂŒr sich ĂŒberlegt, was Bildung bedeutet und welchen Stellenwert sie hat. Dabei reicht es nicht aus, nur strukturelle Fragen des Bildungssystems zu betrachten – vermutlich einer der grĂ¶ĂŸeren Schwachpunkte der Debatte aus den 1960er Jahren. Zweitens ist unstrittig, dass nicht alle Menschen die gleichen Voraussetzungen fĂŒr Bildung haben, aber dennoch jeder Mensch ein Recht auf Bildung besitzt. Solche Bildungsungleichheiten sind dabei nicht nur die Sache des Einzelnen, sondern in einer Demokratie immer die Verantwortung aller. Nach wie vor ist dieses Thema so zentral, dass es nur mit verschlossenen Augen ĂŒbersehen werden kann. Drittens resultiert daraus die Aufgabe, Bildungsgerechtigkeit als bildungspolitisches Programm zu sehen. Vor dieser normativen Perspektive schreckt der erziehungswissenschaftliche Diskurs hĂ€ufig zurĂŒck und man ĂŒberlĂ€sst es der Bildungspolitik, (hoffentlich) vernĂŒnftige Entscheidungen zu treffen. Normativ zu werden, so die hĂ€ufig zu vernehmende Position, sei nicht die Aufgabe von Wissenschaft. Dies ist im Kern allerdings verkĂŒrzend, denn gerade im pĂ€dagogischen Kontext geht es nicht nur darum, die Welt zu beschreiben, wie sie ist, sondern auch darzulegen, wie sie sein sollte und was dafĂŒr notwendig wĂ€re. Die damit verbundenen begrifflichen KlĂ€rungen werden im Folgenden angegangen.

Wovon reden wir eigentlich? Bildung – Bildungsungleichheiten – Bildungsgerechtigkeit

Der Bildungsbegriff ist nicht nur innerhalb der Erziehungswissenschaft ein Terminus technicus, sondern auch von bildungspolitischer Relevanz. So findet sich in allen LÀnderverfassungen der Bundesrepublik Deutschland ein Artikel, in dem der Bildungs- und Erziehungsauftrag von Schule bestimmt und erlÀutert wird. Diese Verankerung ist insofern bemerkenswert, als damit Schule und Unterricht in einen juristischen Raum gestellt werden, der sodann Aufgaben und Pflichten definiert.
In Bayern beispielsweise ist der Bildungs- und Erziehungsauftrag im Artikel 131 der Bayerischen Verfassung formuliert. Dort heißt es in Absatz 1: „Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.“ Grundlegend fĂŒr das damit verbundene BildungsverstĂ€ndnis ist die anthropologische Bestimmung des Menschen als Person. Im Grundgesetz ist dieser Gedanke in Artikel 1 festgeschrieben mit den Worten, dass die WĂŒrde des Menschen unantastbar ist. Insofern hat nicht nur jeder Mensch die Gabe, sich zu bilden, es ist auch seine Aufgabe. Im Kontext von Schule und Unterricht resultiert daraus die Pflicht, jeden Menschen in seinem Bildungsprozess zu unterstĂŒtzen.
Die Nennung der Bereiche des Wissens und des Könnens auf der einen Seite und des Herzens und des Charakters auf der anderen Seite mag altertĂŒmlich klingen. Sie macht aber darauf aufmerksam, dass Bildung nicht auf einzelne Bereiche des Menschseins begrenzt werden darf, sondern sich auf die gesamte Persönlichkeit in all ihren Facetten bezieht. Neben kognitiven Aspekten spielen folglich auch soziale, moralische, Ă€sthetische, motivationale, spirituelle und viele andere mehr eine Rolle (vgl. Gardner, 1983). Es verbietet sich von hier aus, den Menschen auf nur einzelne dieser Bereiche zu begrenzen und ihn damit womöglich als „Humankapital“ fĂŒr außer ihm liegende Zwecke zu benutzen. Der Mensch ist ein Wert fĂŒr sich, der nicht zu hinterfragen ist, seine Bildung ist nicht zu instrumentalisieren. DarĂŒber hinaus weisen die verschiedenen Facetten der Persönlichkeit darauf hin, dass Wechselwirkungen bestehen und Bildung vor diesem Hintergrund immer einen umfassenden Anspruch zu erheben hat, wenn sie dem Menschen in all seinen Möglichkeiten gerecht werden möchte.
Mit diesen Überlegungen ist das Ziel von Bildung definiert: Als Gabe und Aufgabe des Menschseins hat sie kein Ziel außerhalb ihrer selbst. Es geht bei Bildung folglich um den Menschen, um das Menschsein und das Menschwerden. Dieser Vorgang als solcher ist nie abgeschlossen, denn der Mensch steht immerzu vor der Herausforderung, der zu sein, der er ist.
Dieses Ziel ist allgemeingĂŒltig und daher nicht von gesellschaftlichen VerĂ€nderungen abhĂ€ngig, obschon dessen Konkretisierung gesellschaftliche VerĂ€nderungen berĂŒcksichtigen muss. Besonders deutlich wird dieser Gedanke, wenn man sich vor Augen fĂŒhrt, wie unterschiedlich die Ausgangsbedingungen fĂŒr den einzelnen Menschen sein können. Folgende Unterschiede zur Verdeutlichung: weiblich – mĂ€nnlich, bildungsnahes Milieu – bildungsfernes Milieu, Arbeiterfamilie – Akademikerfamilie, Land – Stadt, keine Geschwister – viele Geschwister usw. Die daraus resultierenden Unterschiede im Hinblick auf Bildung...

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