Gespensterjagd Mutterseelenallein
Das GefĂŒhl, nicht bei sich zu Hause zu sein, umschreibt das melancholische LebensgefĂŒhl einer ganzen Epoche. So eindringlich das Bild, so unvorstellbar war es, je von der tatsĂ€chlichen Erfahrung des Fremdseins ĂŒberwĂ€ltigt zu werden und sich selbst zu verlieren. Der Klang der Schritte, die GerĂŒche, die Abmessung der Zimmer waren wohlvertraut, mit Hilfe der HĂ€nde fand man sich tastend sogar im Dunkeln zurecht. Ein »Allein zu Haus« gab es nicht. Noch die Unterhaltungen bei Tisch, Komplimente und Schmeicheleien, die sich unter das entspannte GeplĂ€tscher mischten, lieĂen erst im Nachhinein stutzig werden. Die Katze war noch nicht ganz aus dem Sack gelassen, nur mit einem Apropos nahm das GesprĂ€ch eine Richtung, die das Unausweichliche klar vor Augen stellte: Gewiss ein Leichtes, allein zu Haus zu bleiben, alt genug sei man doch schlieĂlich schon. Mit diesem scheinbar harmlos dahingeworfenen Satz, der als Ritterschlag daherkam, wurde einem ebenso geschickt wie dreist die Gelegenheit aus der Hand geschlagen, AnsprĂŒche anmelden, Gegenleistungen einfordern zu können.
Nicht nur, dass in weite Ferne rĂŒckte, die Eltern im ungewohnten KostĂŒm der Bittsteller zu erleben. Ihre Argumentation lieĂ die Aussicht, ihnen con grandezza ihren Wunsch zu erfĂŒllen, auf eine kleinlaute Zustimmung zusammenschrumpfen. Aber es geschah noch mehr. Das Herz zog sich zusammen. Bereits wĂ€hrend der GesprĂ€che davor, aber besonders natĂŒrlich am Abend, im Zuge der Sicherung des Hauses, warf die bevorstehende BewĂ€hrungsprobe ihre Schatten voraus. Bangigkeit machte sich breit, eine BedrĂ€ngnis, gegen die der Verstand, spĂ€testens nachdem die Eltern die TĂŒr hinter sich abgeschlossen hatten, machtlos schien.
Im gewohnten Tempo liefen die Verrichtungen vor dem Zubettgehen ab, durchaus beschwingt, geradezu im SelbstgefĂŒhl von jemandem, der die Verantwortung fĂŒr das Ganze wie selbstverstĂ€ndlich ĂŒbernimmt. Endlich so lange schmökern, wie es das elterliche Diktat der abendlichen Liturgie niemals zugelassen hĂ€tte, die Aussicht auf ein Lesefest versah die Routine mit etwas Glanz. Lauter Favoriten, die Abenteuer von Captain Conny, Kosmos-BĂ€nde, der Bericht von Anderssons Polarexpedition, lagen im Bett gestapelt, aus Vorfreude, begonnene LektĂŒren zu vertiefen und ZwiegesprĂ€che fortzusetzen. Jedes Buch eine Einladung, ausfĂŒhrlich und selbstĂ€ndig, nach dem Ermessen seines Lesers statt flĂŒchtig unter dem Druck eines Ultimatums.
Dass alles Vertraute fremd wurde, die schleichende Verkehrung der Welt, lieĂ sich hingegen nicht auf halten. Mit jeder Seite rĂŒckten die Geschichten in weite Ferne. Beim Lesen wurden sie schwerer, als wollte sich ihr kostbarer Inhalt dagegen wehren, fĂŒr Ablenkung missbraucht zu werden. Immer wieder fuhren die Gedanken die Zimmer des Hauses ab. In unheimliche Winkel hatten sie sich verwandelt, Schlupf löcher fĂŒr Eindringlinge, einzig dafĂŒr gemacht, dem Alleingelassenen aufzulauern. Die Angst, der keine Gestalt zu geben war, wuchs sich zu einer den Leib durchdringenden Kraft aus. Binnen kurzem wurde aus dem Ort glĂŒckseligen Schmökerns, der zum Schönsten gehörte, was die ersten Jahre zu verschenken hatten, ein Abgrund der Verlorenheit.
Das Wohnen sei der Grundzug des Seins, so heiĂt es bei einem Philosophen, es belebe das GehĂ€use, in das man hineingestellt ist. Hat jemand je das Alleinsein bedacht, im Dunkel der Nacht, in einem Land des Gruselns? Ein gespanntes Horchen auf den eigenen Körper zog alle Aufmerksamkeit auf sich, ein resonanzloses Rumoren, das selbst die MĂŒdigkeit in ein dumpfes Wachsein verwandelte. Nicht einmal zum Weinen war einem zumute. Ausgestreckt im Bett liegend, geriet man ins Taumeln, die BĂŒcher lagen um einen herum. Da die Nacht alle Wahrnehmung entstellt und zugleich verschĂ€rft, zeigten die Sinne sich alarmiert, mit wildem Herzklopfen reagierte der Körper auf den Ausnahmezustand. An der Wand, dort, wo die Fingerschatten ihren Auf tritt hatten, tanzten irrlichternd Fratzen auf, bizarre Silhouetten, die die EinsprĂŒche der Vernunft nicht gelten lieĂen. Fragen, die man Stunden vorher als wirr abgewiesen hĂ€tte, tauchten auf: Ob Gespenster wohl eher durch die TĂŒr kĂ€men oder durchs Fenster, das, wie gewohnt, einen Spalt weit offen stand und wie eine Einladung wirkte. Die KellertĂŒr war abgeschlossen, zweimal sogar, aber was hieĂ das schon, wenn die GerĂ€usche der hereinbrechenden Nacht ihre Tonart Ă€nderten, und dies unĂŒberhörbar, nachdem die Angst das Kommando ĂŒbernommen hatte. Je stiller es im Dunkel unter der Decke um sie wurde, hörten die Ohren um so feiner und verstĂ€rkten die geringste Regung zu einem bedrohlichen Rascheln.
Das Alleinsein verrĂŒckte die Perspektiven, das Zimmer wurde zu einem unheimlichen GegenĂŒber. Die Dinge waren fremd geworden, und die Erfahrung ihrer Unbelebtheit vergröĂerte nur noch den trostlosen Zustand mangelnder Geborgenheit. Beten â hatte es nicht oft geholfen â hĂ€tte vereitelt, sich der Situation mutig gewachsen zu zeigen. Musste nicht, wer am Versprechen des Gebets zu zweifeln gewagt hatte, fĂŒrchten, statt getröstet bestraft zu werden? Stellte sich womöglich der Abend, die Verantwortung fĂŒr das Haus, als PrĂŒfung heraus, bei der Gott sich von seiner unbarmherzigen Seite zeigen wĂŒrde? Der Wunsch, mit dem SchlieĂen der Augen alle Unruhe hinter sich zu lassen, ging nicht in ErfĂŒllung.
Nach einer Ewigkeit dĂ€mmernden Wachseins drang von fern rhythmisches Klackern ans Ohr, begleitet von einem Gemurmel, das sich, je nĂ€her es kam, in Wortfetzen oder ein RĂ€uspern auf löste. Hellwach und durch sein NĂ€herkommen alarmiert, lauschte man angestrengt in die Stille vor der HaustĂŒr. Und dann, endlich der Moment, als das beklemmende Warten dem Ende nah schien, ein Augenblick hielt alle Möglichkeiten â den schrecklichen Irrtum ebenso wie die erlösende Gewissheit â gefangen, bis die GerĂ€usche ins Haus vordrangen. Der Lichtstreifen unter der TĂŒr jagte schlieĂlich den Zweifel davon. Dunkle Stimmen, die sich im leichten Crescendo nĂ€herten, drangen zur Kissenburg vor. Dann öffnete sich leise die TĂŒr.
Die Augen zugekniffen, genoss man das JubelgefĂŒhl, das den Körper erfasste, in vollen ZĂŒgen. Der Kuss, den der Erschöpfte auf seiner Wange spĂŒrte, lieĂ ihn den flirrend festlichen Duft der Feier ahnen, von der die Eltern heimgekehrt waren. Aller Kummer war vertrieben. Unter der kĂŒhlenden Hand, die sich auf die Stirn legte, zeigte sich die Welt wiederhergestellt. Tiefes GlĂŒck durchflutete den TrĂ€umenden, der, die Haare noch ganz zerzaust und nass unter den Anfechtungen der Nacht, beinah ein anderer geworden war.
Zeus zu Besuch
Manche Dinge drĂ€ngten sich auf, als wollten sie die Neugier ĂŒberfallen. Mit ungeheurer Wucht brachen sie ins Leben ein. Tolldreist trieb es die Natur, wenn sie sich mit einer Meute schwarzdunkler Wolken ĂŒber den DĂ€chern zusammenballte und Sintfluten niederprasseln lieĂ, die Menschen ins Haus scheuchte, jedes Spielen unterbrach. Vor nichts machte das Gewitter halt, noch ĂŒberall spĂŒrte man das RĂŒtteln, von dessen lĂ€rmender Gegenwart man sich eine Weile abzulenken vermochte. Wenn der Boden bebt, gerĂ€t das leibliche Vermögen, sich zu orientieren, an seine Grenzen. Ein Entkommen war unmöglich. Aussichtslos, die HĂ€nde vors Gesicht halten, um Zuflucht zu suchen. Das Zerhacken der AtmosphĂ€re, mit feinsten Splittern, die der Donner wahllos in die Gegend schleuderte, bremste alles Tun.
Verkrochen im Haus, im pochenden Zustand des Wartens, peitschte die Angst die aufgebrachte Phantasie in ein Gemisch aus Hoffen und WĂŒnschen: verschont zu bleiben und zugleich den Krach zu steigern. Die HĂ€nde, die, um Wirkungen zu prĂŒfen, abwechselnd die Ohren und die Augen zuhielten, gaben in der erfahrenen Machtlosigkeit der Idee nach, sich nĂŒtzlich zu machen. Vorsichtig stellten sich die Finger in den Dienst der Vorhersage, die Sekunden zu zĂ€hlen â eins, zwei, drei, vier, fĂŒnfâ, als wĂ€ren zum schaurigen Disput unter den Blitzen und ihren krachenden Antipoden irdische Ringrichter vorgesehen, Sieger und Verlierer zu verkĂŒnden. Dankbar fĂŒr die Ablenkung halfen sie mit, die Gnadenfrist zu ermitteln, zwischen dem nahen Nichtgeheuren oder dem Verschontbleiben. Das Ergebnis hefteten die Augen hoffnungsvoll und mit dem Wunsch, dem Unheil Einhalt zu gebieten, an die graue Wand am Himmel.
Der Kampf zwischen David und Goliath, der im Inneren des Hauses in der GeschĂ€ftigkeit seiner Bewohner ein hektisches Echo fand, trug dazu bei, dem Kitzel, den das Gewitter auf die Sinne auszulösen vermochte, etwas abzugewinnen. Im Spiel der Einbildungskraft wĂ€hnte man sich auf der sicheren Seite und folgte dem Geschehen mit der Phantasie, einem zornigen Palaver beizuwohnen, so wie man gespannt hinter der TĂŒr lauscht, um vom Streit der Eltern etwas aufzuschnappen, und fĂŒrchtet, beim Spionieren entdeckt zu werden. Worte der Erwachsenen, ErklĂ€rungen, die das Bedrohliche des chaotischen Spektakels ins Schulbuchwissen, in ein VerstĂ€ndnis von Ursache und Wirkung verscheuchen sollten, hörte man sich zuflĂŒstern. Der Blitz werde vom Dach des Hauses in die Erde abgeleitet, im schneidenden Knistern entlade sich eine gewaltige Energie â Strom, mit dem sich eine ganze Stadt versorgen lasse. Beim Fahrradfahren könne man nicht getroffen werden, niemals dĂŒrfe man unter einem Baum Schutz suchen. Mahnungen, Beschwichtigungen, SĂ€tze einer dĂŒnnen Zuversicht, in den Pausen des LĂ€rms gemurmelt, lieĂen drohende Fragen, die in das Getose drĂ€ngten, unbeantwortet. Wie entsteht der Zorn, wer schleudert ihn, von wo kommt er, und wen trifft er? Und was geschieht, wenn er einschlĂ€gt? Von Athene, die weiĂ, wessen Waffen die Blitze sind, hatte man nicht gehört.
Die GrĂŒbeleien verschwanden mit den ersten Sonnenstrahlen. Die Wolken waren, nachdem sie sich ausgeschĂŒttet hatten, weitergezogen. Mit allen Instrumenten, dem Tosen des Sturms, dem prasselnden Regen, versammelte sich die lĂ€rmende Truppe zum nĂ€chsten Auf tritt. Wie gelĂ€utert schien die Umgebung. So ĂŒberwĂ€ltigend seine Gewalt war, das Gewitter kam und zog weiter, wie der Tag, der auf die Nacht folgt. Sein Verschwinden wie ein Sieg. Das Spielen zu vertreiben, war ihm nicht gelungen. Die Welt war heil geblieben, so lautete die Botschaft, die das Getöse hinterlassen hatte. Dessen Nachhut aus Wolken und vereinzelten DonnerschlĂ€gen, die ein paar flackernden Blitzen hinterherfuchtelten, konnte einem nichts mehr anhaben, leere Drohungen im Ausklang. Der ĂŒberstandene Schrecken lieĂ eine absurde Heiterkeit entstehen, die sich zu der Idee steigerte, das Getöse wieder herbeizuwĂŒnschen. Die Erfahrung, davongekommen zu sein, hatte KrĂ€fte wachsen lassen, der ungeheuren Wucht der Naturgewalten gewachsen zu sein, sie als gerĂ€uschvolles Spektakel geradezu auszukosten.
Die Minuten danach, als der Himmel sich in seinem schönsten Blau zeigte, waren durchdrungen von einer namenlosen Freude ohne Herkunft. In die AtmosphĂ€re einer wundersam festlichen Klarheit meldete sich der Dank fĂŒrs Erhaltensein, fĂŒr die Konstanz der Dinge und die Ruhe der Welt. Erleichtert verlieĂ man die Deckung des Hauses, trat vor die TĂŒr, um zurĂŒckzuerobern, was einem...