Einleitung
Die Schwierigkeit bei der Behandlung der meisten islamischen Fragen liegt u. a. darin, dass die verschiedenen islamischen Kontexte auf sehr unterschiedliche Erfahrungen zurĂŒckgehen und demzufolge sehr unterschiedliche Stellungen in Bezug auf die religiöse PrĂ€gung der Gesellschaft, Politik und nicht zuletzt die Gesetze des jeweiligen Landes haben. WĂ€hrend das eine Land fortschrittliche Gesetzgebung auf dem Weg der Anerkennung des Pluralismus geleistet hat, erlebt das andere Land heftige Diskussionen ĂŒber moderne Begriffe wie Pluralismus, Demokratie, Freiheit, MuwÄáčana (gleichberichigte BĂŒrgerschaft), etc. Hierzu kommen jene islamischen LĂ€nder, in denen die Gelehrten und Intellektuellen diese Begriffe zwar anerkennen und sie als nicht mit den islamischen Lehren in Widerspruch stehend erklĂ€ren, jedoch noch nicht so weit sind sie konkret in ihre Gesetze und LehrfĂ€cher umgesetzt zu haben.
Das Relevante ist hier die Auswirkung dieser verschiedenen Situationen und UmstĂ€nde auf die wissenschaftliche Bewegung eines jeden Landes bzw. eines jeden Kontextes. Eine Auswirkung, die sich nicht selten auf die Auseinandersetzung mit den offenbarten und den ĂŒberlieferten Texten erstreckt. Als historisches Beispiel dafĂŒr kann der bekannte Meinungsunterschied, der zwischen den កanafÄ«ten und MÄlikÄ«ten in Bezug auf die Argumentation mit dem Aáž„Äd-Hadith und dem Analogieschluss auftaucht, dienen.
BeschĂ€ftigen wir uns in diesem Rahmen mit der Frage der Ridda (Apostasie), dann scheiden sich die Geister. Man ist in groĂem MaĂe darĂŒber uneins, ob das Todesurteil die richtige islamische Bestimmung fĂŒr den Apostat ist. WĂ€hrend einige Intellektuelle die im Koran explizit betonte Glaubensfreiheit hervorheben und die damit mehr oder weniger in Widerspruch stehenden Vorgehensweisen in der islamischen traditionellen Praxis in Frage stellen, versucht eine Zahl der heutigen Theologen die fraglichen Ăberlieferungen des Propheten und die Praxen seiner Kalifen so zu interpretieren, dass sie mit der koranischen Auffassung in keinem Widerspruch stehen.
Nach den Ereignissen in Folge von SalmÄn RuĆĄdÄ«s Roman âThe Satanic Versesâ (1988) wurden vereinzelt Hinrichtungen an anderen Personen durchgefĂŒhrt: So etwa im Jahre 2000 bei einem somalischen StaatsbĂŒrger. Der Gelehrte Maáž„mĆ«d Muáž„ammad áčŹÄha wurde im Sudan am 18. Januar 1985 offiziell wegen âerwiesener Apostasieâ hingerichtet. Wegen angeblichen Abfalls vom Glauben wurde die Ehe zwischen dem Ă€gyptischen Gelehrten NaáčŁr កÄmid AbĆ« Zaid und seiner Frau im Jahre 1996 nach einem langen Gerichtsverfahren aufgelöst.
Der Ăgypter Muáž„ammad SalÄ«m el-ÊżAwwÄ und der Syrer Muáž„ammad MunÄ«r AdlabÄ« sind zwei Intellektuelle, die in ihren Werken die Berechtigung fĂŒr ein Todesurteil bei Apostasie heftig bestreiten. Im Folgenden setzt sich die Untersuchung mit ihren Auffassungen hinsichtlich der heiligen sowie tradierten Texte, die sich fĂŒr oder gegen das Todesurteil des Murtad (Apostat) Ă€uĂern, auseinander. Vorab wird ein Blick ĂŒber die traditionellen Meinungen der vier sunnitischen Rechtsschulen zum Thema Ridda geworfen.
1 Apostasie-Urteil in der frĂŒheren Literatur des islamischen Rechts â Ăberblick der vier sunnitischen Rechtsschulen in al-fiqh ÊżalÄ l-maážÄhib al-ArbaÊża von al-ÇŠazÄ«rÄ«
Unter diesem Punkt werden die verschiedenen Meinungen der vier sunnitischen Rechtsschulen nur kurz skizziert.1 Die Darstellung stĂŒtzt sich auf das Buch al-fiqh ÊżalÄ al-maážÄhib al-arbaÊża (Das islamische Recht nach den vier Schulen) von ÊżAbdul Rahman al-ÇŠazÄ«rÄ«, Beirut 1998. In fast allen Werken der vier Rechtsschulen gibt es ein spitzielles Kapitel ĂŒber den Murtad. Am Anfang des jeweiligen Kapitels gehen alle Rechtsgelehrten von der folgenden Ăberlieferung von Ibn ÊżAbbÄs aus und betonen die Todesstrafe des Murtad, dessen Ridda schon feststeht:
Ibn ÊżAbbÄs ĂŒberliefert, dass der Prophet Muáž„ammad sagte:
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Wer seine Religion wechselt, den tötet!
FĂŒr die Feststellung der Ridda fĂŒhren sie eine Vielzahl von Voraussetzungen an, die in den Aussagen, Taten oder Ăberzeugungen des Murtad vorhanden sein mĂŒssen. Beispielsweise kann der Abfall durch die eindeutige Aussage anÄ uĆĄriku billÄhi (Ich geselle Allah andere Götter bei) erfolgen, oder durch eine Behauptung, die den Unglauben ausdrĂŒckt, wie allahu ǧismun kal-aǧsÄm (Allah ist eine Substanz wie die anderen Substanzen) oder alÊżÄlamu qadÄ«m (die Welt existiert von Ewigkeit her) oder alÊżÄlamu bÄqin ÊżalÄ ad-dawÄm (die Welt besteht fĂŒr immer, ohne ein Ende zu nehmen). Der Abfall erfolgt auch durch eine Tat, die eindeutig dem Unglauben gleichkommt, wie das Verbrennen oder das leichtfertige Wegwerfen des Korans aus Verachtung. Dies gilt auch, wenn der Muslim sich vor Idolen niederwirft oder die Zauberei lernt und praktiziert, weil man bei der Zauberei einen anderen Namen auĂer dem Namen Gottes verherrlicht und die Vorherbestimmung nicht allein auf Gott zurĂŒckfĂŒhrt. Der Muslim wird als UnglĂ€ubiger beurteilt, wenn er die Existenz Gottes, seiner Engel oder das Prophetentum Muhammads leugnet. Nach AufzĂ€hlung solcher Beispiele hebt al-ÇŠazÄ«rÄ« den Konsensus aller Rechtsgelehrten darĂŒber hervor, dass der Abfall durch das Zeugnis zweier gerechter Zeugen festgestellt werden muss. Die Zeugen mĂŒssen darin ĂŒbereinstimmen, mit welcher Aussage oder Tat genau der Betroffene vom Islam abgefallen ist. In dies...