Dionysosâ Duplicitas
Tragik, Komik und das attische Theater
1Wer ein Wort gebraucht, weil es nach Tiefe klingt, hat fĂŒr seine Plattheit schon gesorgt. So kann philosophisches Reden von Tragik es zu einer bestimmten Komik bringen: der unfreiwilligen. »Die Lage des Philosophen ist wahrhaft tragisch. Fast niemand liebt ihn«, schrieb der auch sonst fĂŒr Wehen anfĂ€llige Philosoph Nikolai Berdjajew 1933 in Das Ich und die Welt der Objekte. »Selbst die Möglichkeit einer Philosophie wird fortwĂ€hrend angezweifelt, und jeder Philosoph ist gezwungen, sein Werk mit einer Verteidigung der Philosophie und mit dem Nachweis zu beginnen, dass sie möglich und nicht fruchtlos ist.« Der Philosophie âșwahrhafte Tragikâč ist ein ihr vorenthaltener GenuĂ: »Sie geniesst keineswegs das, was man Ansehen in der Oeffentlichkeit nennt«1. Wer dem eigenen Treiben Tragik bescheinigt, will sich selbst erhöhen; die erreichte Fallhöhe ist ein aufgelegter Witz. Seine BĂŒcher mit apologetischen Vorreden versehen zu mĂŒssen, sie dennoch oder deswegen schlecht zu verkaufen und diesen Vorgang tragisch zu nennen, kann nicht anders als komisch sein. PrĂ€dikat: »nicht fruchtlos«. Selbstmitleid ist ja fast immer komisch; denn an einen, der so viel Mitleid fĂŒr sich selbst ĂŒbrig hat, wird die »Oeffentlichkeit« ihre eigene knappe Ration Mitleid kaum verschwenden â wenn sie auch ihren SpaĂ an ihm haben kann.
2Nur im vollen BewuĂtsein eines stets drohenden Absturzes in unfreiwillige Komik sollte Philosophie sich daher an die Frage wagen, was tragisch und was komisch sei. Der Absturz droht hier, auĂer vom Drang nach Tiefe (¶ 1) her, auch einer etwas zweifelhaften Tugend dieser Disziplin wegen: der Pedanterie. Denn Tragisches und Komisches, so scheint es, bricht herein, kommt unvorhergesehen, hĂ€lt nicht auf PĂŒnktlichkeit, ist antipedantisch. Um Aussagen ĂŒber sie unter rationale Kontrolle zu bringen, mag es sich empfehlen, zunĂ€chst einmal beide Begriffe zu definieren. Die Forderung weckt Hoffnung auf eine probat verfĂŒgbare Formel. Einst sollten Definitionen Wesensfragen beantworten: âșWas ist Tragik?âč, âșWas ist Komik?âč, âșWas ist Tragikomik?âč. Und Antworten auf Wesensfragen versprach eben die Philosophie. Wie allerdings einem Philosophen, Friedrich Nietzsche, auffiel, ist »definirbar [âŠ] nur Das, was keine Geschichte hat«, weshalb die Mathematik eine DomĂ€ne solcher Begriffsbestimmungen allein aus Grundbegriffen oder bereits definierten Begriffen ist; so eminent historische Begriffe wie âștragischâč und âșkomischâč hingegen »entziehen sich der Definition«.2 Tragik und Komik sind nichts ein fĂŒr allemal Gegebenes, sondern etwas Erzeugtes: etwas zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedliche Weise Erzeugtes. Zwar entzieht sich nichts mehr der Definition, sobald statt Antworten auf Wesensfragen als bescheidener Ersatz sogenannte Nominaldefinitionen angeboten werden. Sie besagen nichts weiter als âșIn diesem Text soll das Wort âșTragikâč oder âșKomikâč dies oder jenes bedeutenâč, und können nie falsch sein, weil es keine Instanz gibt, die eingesetzt wĂ€re, jemanden abzuhalten, Nominaldefinitionen so festzulegen, wie er oder sie will. Was nicht falsch ist, kann sich indes immer noch als steril erweisen.
3FĂŒr termini technici sind Nominaldefinitionen (¶ 2) nĂŒtzlich, nicht aber fĂŒr mit Geschichte gesĂ€ttigte Ideen. Deren Changieren ist kein Mangel, sondern macht sie erst recht bemerkenswert; ihre nominale Definition wirkt als Barriere, manchmal als willkommene, da sie es erspart, der Genese von Bedeutungen nachzugehen. Dies jedenfalls zu versuchen heiĂt nicht und rechtfertigt auch nicht, AusdrĂŒcke verworren oder verwaschen zu gebrauchen. Im Gegenteil, man muĂ eher genauer sein. Ja, gerade Ungenauigkeit geht einher mit ĂŒberzeitlichen Definitionen. Daher rĂŒhrt der Schauder, der manche Philologen oder Historiker ĂŒberlĂ€uft, sobald Philosophen sich ihren GegenstĂ€nden nĂ€hern.3 Denn wenn sie ihrer dĂ©formation professionnelle folgen, dann subsumieren professionelle Denker das Besondere eines Kunstwerks oder einer historischen Situation einem allgemeinen Begriff. Kafkas Process exemplifiziert dann die tragische Entfremdung des modernen Menschen. Es gibt allerdings auch eine andere Weise, in der Dichtung, Musik, Kunst oder historische Ereignisse philosophisch verstanden werden können, nĂ€mlich wenn ihr jeweils Besonderes nicht als Manifestation einer Idee verstanden wird, sondern als die Idee selbst, eine Idee, die sich auf nichts anderes reduzieren lĂ€Ăt und dennoch allgemein bedeutsam sein kann. Zugleich philologisch und philosophisch oder zugleich historisch und philosophisch zu sein heiĂt: sich auf die Details eines Textes oder eines geschichtlichen Vorgangs einzulassen, kurz: genau zu sein.
4Um Geschichte herumzukommen, hoffte Nietzsche allerdings in frĂŒheren Phasen seines Denkens. Das Tragische der Geburt der Tragödie (1872) ist, wenngleich âșGeburtâč einen ProzeĂ bezeichnet, eine metaphysische GröĂe; in Menschliches, Allzumenschliches I (1878) philosophiert Nietzsche hingegen, wie er es spĂ€ter nannte, »am Leitfaden des Leibes«4. Das mag ein Vorzug sein vor hochtrabenden Philosophien des Tragischen, die das rein Geistige beschwören. Aber unhistorisch sind auch ein Tragisches und Komisches, die aus der allgemeinen Natur »des Menschen« abgeleitet werden. Denn die »manche[n] hunderttausend Jahre«, die zu resĂŒmieren sich Nietzsche in Aphorismus 169 des ersten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches zutraut, sind gerade nicht historische Zeit:
Wenn man erwĂ€gt, dass der Mensch manche hunderttausend Jahre lang ein im höchsten Grade der Furcht zugĂ€ngliches Tier war und dass alles Plötzliche, Unerwartete ihn kampfbereit, vielleicht todesbereit sein hiess, ja dass selbst spĂ€ter, in socialen VerhĂ€ltnissen, alle Sicherheit auf dem Erwarteten, auf dem Herkommen in Meinung und ThĂ€tigkeit beruhte, so darf man sich nicht wundern, dass bei allem Plötzlichen, Unerwarteten in Wort und That, wenn es ohne Gefahr und Schaden hereinbricht, der Mensch ausgelassen wird, inâs Gegentheil der Furcht ĂŒbergeht: das vor Angst zitternde, zusammengekrĂŒmmte Wesen schnellt empor, entfaltet sich weit, â der Mensch lacht. Diesen Uebergang aus momentaner Angst in kurz dauernden Uebermuth nennt man das Komische. Dagegen geht im PhĂ€nomen des Tragischen der Mensch schnell aus grossem, dauerndem Uebermuth in grosse Angst ĂŒber; da aber unter Sterblichen der grosse dauernde Uebermuth viel seltener, als der Anlass zur Angst ist, so gibt es viel mehr des Komischen, als des Tragischen in der Welt; man lacht viel öfter, als dass man erschĂŒttert ist.5
Ist »das Tragische« wirklich eine Art Zusammenzucken? Kein Wort wendet Nietzsche hier an den Konnex des Komischen und Tragischen mit dem Theater. Der Passus steht allerdings im âșVierten HauptstĂŒckâč von Menschliches, Allzumenschliches I, âșAus der Seele der KĂŒnstler und Schriftstellerâč; es geht, zumindest auch, um eine ErklĂ€rung kĂŒnstlerischer PhĂ€nomene. Schon als Raum und Institution schirmt das Theater so vor Gefahren des wirklichen Lebens ab, daĂ es als Ort der Erleichterung ĂŒber Komisches oder der ErschĂŒtterung von Tragischem, wie in Menschliches, Allzumenschliches imaginiert, kaum in Frage kommt. Nietzsche malt sich das wirkliche Leben eines tierischen Urmenschen aus, vor aller kulturellen und historischen Besonderung, und nimmt von ihm seine ErklĂ€rung her. Tragisches und Komisches werden dabei zu GemĂŒtsbewegungen des Ăbergangs, mit denen »der Mensch« auf »Plötzliche[s], Unerwartete[s]« reagiert; Komik soll sich einstellen, wenn das Ereignis sich als ungefĂ€hrlich ...