Der Pilz am Ende der Welt
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Der Pilz am Ende der Welt

Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus

Anna Lowenhaupt Tsing, Dirk Höfer

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  1. 448 pages
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Der Pilz am Ende der Welt

Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus

Anna Lowenhaupt Tsing, Dirk Höfer

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Das erste neue Leben, das sich nach der nuklearen Katastrophe in Hiroshima wieder regte, war ein Pilz. Ein Matsutake, der auf den verseuchten TrĂŒmmern der Stadt wuchs – einer der wertvollsten Speisepilze Asiens, der nicht nur in Japan, wo er Spitzenpreise aufruft, vorkommt, sondern auf der gesamten Nordhalbkugel verbreitet ist. Dieser stark riechende Pilz wĂ€chst bevorzugt auf von der Industrialisierung verwĂŒsten und ruinierten Böden und ist nicht kultivierbar.In ihrem faszinierenden kaleidoskopischen Essay geht die Anthropologin Anna Lowenhaupt-Tsing den Spuren dieses Pilzes sowie seiner biologischen und kulturellen Verbreitung nach und begibt sich damit auch auf die Suche nach den Möglichkeiten von Leben in einer vom Menschen zerstörten Umwelt. Sie erzĂ€hlt Geschichten von Pilzsammlern, Wissenschaftlern und Matsutake-HĂ€ndlern und öffnet einen neuen und ungewohnten Blick auf unsere kapitalistische Gegenwart. Denn eigentlicher Gegenstand ihrer preisgekrönten und in viele Sprachen ĂŒbersetzten ErzĂ€hlung ist die Ökologie des Matsutake, das Beziehungsgeflecht um den Pilz herum, als pars pro toto des Lebens auf den Ruinen des Kapitalismus, das ein Leben in Beziehungen sein – oder aber nicht sein wird.

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Informations

Teil III

Gestörte AnfÀnge, unbeabsichtigte Gestaltung

Als mir Kato-san die Arbeit erklĂ€rte, die er fĂŒr die Forschungen der Bezirksforstverwaltung zur Sanierung des Walds unternahm, war ich schockiert. Als Amerikanerin, die geschult war, in der Wildnis eine sensible Sache zu sehen, dachte ich, WĂ€lder wĂŒrden sich am besten wiederherstellen, wenn sie sich selbst ĂŒberlassen blieben. Kato-san war dieser Meinung nicht: Wenn man den Matsutake in Japan haben möchte, braucht man Kiefern, und wenn man Kiefern haben möchte, braucht es Eingriffe durch den Menschen. Er ĂŒberwachte Arbeiten, im Zuge derer LaubbĂ€ume aus dem Berghang entfernt wurden, den er mir gerade zeigte. Sogar die Humusschicht war weggekarrt worden, und fĂŒr meine amerikanischen Augen sah der steile Abhang nun durchfurcht und kahl aus. »Und was ist mit der Erosion?«, fragte ich. »Erosion ist gut«, antwortete er. Ich war nun wirklich ĂŒberrascht. Ist denn Erosion, der Verlust des Bodens, nicht immer schlecht? Ich ließ es mir gerne erklĂ€ren: Kiefern wachsen auf Mineralböden, und diese werden durch Erosion freigelegt.
Die Arbeit mit Forstverwaltern in Japan verĂ€nderte mein Denken darĂŒber, was störende Eingriffe fĂŒr die WĂ€lder bedeuteten. Dass absichtlich störend eingegriffen wurde, um die WĂ€lder zu revitalisieren, versetzte mich in Erstaunen. Kato-san legte keinen Garten an. Der Wald, auf den er hoffte, wĂŒrde von alleine wachsen mĂŒssen. Er wollte ihm jedoch auf die SprĂŒnge helfen, indem er eine Art Unordnung stiftete, ein Durcheinander, das das Wachstum von Kiefern begĂŒnstigen wĂŒrde.
Kato-sans Arbeit befasste sich mit einem populĂ€ren und wissenschaftlichen Ansinnen: der Wiederbelebung der satoyama-Waldgebiete. Satoyama sind traditionelle bĂ€uerliche Landschaften, in denen sich Reisanbau und BewĂ€sserungsanlagen mit WaldflĂ€chen kombiniert finden. Die WaldflĂ€chen – das HerzstĂŒck des satoyama-Konzepts – waren einst durch die Entnahme von Feuerholz, die Herstellung von Holzkohle sowie die Verwertung anderer Waldprodukte gestört und spĂ€ter in dieser Form beibehalten worden. Heute stellt der Matsutake das wertvollste Erzeugnis der satoyama-WĂ€lder dar. Wenn die WaldflĂ€chen fĂŒr den Matsutake aufbereitet werden, ist das auch fĂŒr eine Reihe anderer Lebewesen gĂŒnstig: Kiefern und Fichten, krautige Pflanzen im Untergeschoss des Waldes, Insekten und Vögel. Die Wiederherstellung erfordert störende Eingriffe – es handelt sich aber um Störungen, die die DiversitĂ€t und die Gesundheit der Ökosysteme steigern. Manche sind sogar der Ansicht, dass bestimmte Ökosysteme nur aufgrund menschlichen Handelns gedeihen.
Überall auf der Welt nutzen ökologische Sanierungsmaßnahmen menschliche AktivitĂ€ten zur Umgestaltung natĂŒrlicher Landschaften. Die Wiederbelebung der satoyama-WĂ€lder unterscheidet sich meines Erachtens durch die Vorstellung, dass der Einfluss des Menschen ebenso Teil des Waldes sein sollte wie nichtmenschliche EinflĂŒsse. In diesem Projekt soll die Landschaft von Menschen, Kiefern, Matsutake und anderen Arten gemeinsam gestaltet werden. Ein japanischer Wissenschaftler sah in dem Vorkommen von Matsutake das Ergebnis einer »unbeabsichtigten Kultivierung«, denn die Störungen durch den Menschen machten ein solches Vorkommen wahrscheinlicher – trotz der Tatsache, dass es dem Menschen nicht gelingt, den Pilz zu kultivieren. Man könnte also durchaus sagen, dass Kiefern, Matsutake und der Mensch sich unbeabsichtigt gegenseitig kultivieren. Sie ermöglichen einander ihre jeweiligen welterzeugenden Vorhaben. Mit diesem Ausdruck wurde mir klar, dass Landschaften im Allgemeinen Ergebnisse einer unbeabsichtigten Gestaltung sind, das heißt, aus den sich ĂŒberlagernden welterzeugenden TĂ€tigkeiten zahlreicher menschlicher wie nichtmenschlicher Akteure entstehen. Die Gestaltung zeigt sich klar im Ökosystem einer Landschaft, auch wenn niemand diese Wirkung geplant hat. Beim Erschaffen von unbeabsichtigt gestalteten Landschaften verbinden sich Menschen mit anderem.
Landschaften sind Ausdruck von mehr-als-menschlichen Dramen und stellen somit ein radikales Instrument zur Relativierung menschlicher Hybris dar. Landschaften sind keine Kulissen fĂŒr historisches Handeln: Sie selbst handeln. Beobachtet man die Formierung von Landschaften, sieht man, wie Menschen sich mit anderen Lebewesen verbinden, um Welten zu gestalten. Matsutake und Kiefern wachsen nicht einfach in WĂ€ldern; sie machen die WĂ€lder. Matsutake-WĂ€lder sind ZusammenkĂŒnfte, die Landschaften aufbauen und verĂ€ndern. Dieser dritte Teil des Buchs fĂ€ngt mit Störungen an – gleichzeitig mache ich aus Störungen auch einen Anfang, den Auftakt eines Handelns. Störungen richten die Möglichkeiten fĂŒr sich wechselseitig verĂ€ndernde Begegnungen neu aus. Landschaftliche Patches entstehen aus Störungen. PrekaritĂ€t spielt sich somit in Vergesellschaftungen ab, die ĂŒber den Menschen hinausreichen.

Kapitel 11

Das Leben des Waldes

Aufmerksam in einem Wald unterwegs zu sein, selbst in einem beschĂ€digten, heißt, sich von der ÜberfĂŒlle des Lebens gefangen nehmen zu lassen: altes und neues Leben, unten am Boden und oben, zum Licht strebend. Wie aber erzĂ€hlt man vom Leben des Waldes? Wir könnten damit anfangen, nach Dramen und Abenteuern Ausschau zu halten, die jenseits der Umtriebe des Menschen stattfinden. Wir sind es jedoch nicht gewohnt, Geschichten zu lesen, die ohne menschliche Helden auskommen. Das ist das Dilemma, das diesen Abschnitt des Buches prĂ€gt. Kann ich die Landschaft zum Protagonisten eines Abenteuers machen, in dem Menschen nur eine Rolle neben anderen spielen?
In den vergangenen Jahrzehnten haben Gelehrte unterschiedlicher Disziplinen aufgezeigt, dass es nicht bloß eine Voreingenommenheit des Menschen ist, in seinen Geschichten nur menschliche Protagonisten zuzulassen; es ist eine kulturelle Agenda, geknĂŒpft an die FortschrittstrĂ€ume, die mit der Modernisierung einhergehen.1 Es gibt aber auch andere Formen der Welterzeugung. Anthropologen interessieren sich neuerdings zum Beispiel dafĂŒr, wie JĂ€ger aus Subsistenzgesellschaften andere Lebewesen als »Personen«, das heißt, als Hauptdarsteller von Geschichten verstehen.2 Wie könnte es auch anders sein? Fortschrittserwartungen blockieren allerdings dieses VerstĂ€ndnis: Sprechende Tiere sind etwas fĂŒr Kinder und Primitive. Ihre Stimmen sind zum Verstummen gebracht und wir stellen uns unser Wohlergehen ohne sie vor. Um des lieben Fortschritts willen trampeln wir auf ihnen herum. Wir vergessen, dass ein gemeinschaftliches Überleben artenĂŒbergreifende Abstimmungen erfordert. Um das Feld der Möglichkeiten nun zu erweitern, bedĂŒrfen wir anderer Geschichten, dazu gehören auch Abenteuer von Landschaften.3
Wir könnten mit einem Fadenwurm beginnen – und einer These zur LebensqualitĂ€t.
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»Nennt mich Bursaphelenchus xylophilus. Ich bin eine kleine wurmartige Kreatur, ein Nematode, und verbringe die meiste Zeit damit, mich durch das Innere von KiefernbÀumen zu nagen. Aber meinesgleichen ist so weit herumgekommen wie ein WalfÀnger auf den sieben Meeren. Leistet mir Gesellschaft und ich erzÀhle euch von seltsamen Reisen.«
Doch gemach: Wer lĂ€sst sich schon gerne von einem Wurm ĂŒber die Welt erzĂ€hlen? Fast die gleiche Frage stellte Jakob von UexkĂŒll 1934, als er die Welt aus der Sicht einer Zecke beschrieb.4 Ausgehend von dem Wahrnehmungsapparat einer Zecke, etwa ihrer FĂ€higkeit, die WĂ€rme eines SĂ€ugetiers und damit einer möglichen Blutmahlzeit aufzuspĂŒren, legte UexkĂŒll dar, dass eine Zecke Weltwissen hat und Welt erzeugt. Sein Ansatz machte Landschaften als Szenerien von Sinneswahrnehmungen lebendig; Lebewesen sollten nicht als trĂ€ge Objekte, sondern als erkennende Subjekte betrachtet werden.
Gleichwohl: UexkĂŒlls Vorstellung einer »funktionalen Tönung« (Affordanz) beschrĂ€nkt die Zecke auf die (Seifen-)Blasenwelt ihrer wenigen Sinnesorgane. Sie ist in einem schmalen rĂ€umlichen und zeitlichen Rahmen gefangen und nimmt nicht an den grĂ¶ĂŸeren Rhythmen und Geschichten der Landschaft teil.5 Das greift aber nicht weit genug, wie die Reisen von Bursaphelenchus xylophilus, dem Kiefernholznematoden, bezeugen. Nehmen wir uns einer der schillerndsten dieser Reisen an:
Kiefernholznematoden können sich nur mithilfe von Langhornböcken, KĂ€fern, die sie ohne Nutzen fĂŒr sich selbst transportieren, von Baum zu Baum bewegen. In einem bestimmten Lebensstadium kann es fĂŒr einen Nematoden von Vorteil sein, als blinder Passagier auf einem KĂ€fer von einem Baum zum anderen zu springen. Das ist aber keine Frage der Gelegenheit. Die Nematoden mĂŒssen die KĂ€fer in einem bestimmten Stadium ihres Lebenszyklus befallen, nĂ€mlich dann, wenn diese gerade aus ihren KieferngĂ€ngen hervorkriechen, um einen neuen Baum aufzusuchen. Die Nematoden nisten sich in die Tracheen der KĂ€fer ein. Wenn die KĂ€fer zu einem neuen Baum fliegen, um dort ihre Eier abzulegen, gleiten die Nematoden in die frischen Wunden des neuen Baums. Dabei handelt es sich um ein außergewöhnliches BravourstĂŒck, bei dem sich die Nematoden mit den Lebensrhythmen der KĂ€fer koordinieren mĂŒssen.6 Will man sich mit einem solchen Koordinierungsnetz vertraut machen, reichen UexkĂŒlls Blasenwelten nicht aus.
Zwar beschĂ€ftige ich mich hier mit Nematoden, den Matsutake habe ich jedoch nicht aus den Augen verloren. Einer der HauptgrĂŒnde fĂŒr das seltene Vorkommen von Matsutake in Japan ist das Kiefernsterben, das aus dem Verhalten der Kiefernholznematoden resultiert. So wie WalfĂ€nger auf der Jagd nach Walen sind, sind unsere Nematoden auf der Jagd nach Kiefern, die sie samt ihren Pilzbegleitern töten. Nematoden haben ihr Leben jedoch nicht seit jeher auf diese Weise bestritten. Wie es auf WalfĂ€nger und Wale zutrifft, wurden auch Nematoden nur durch die UnwĂ€gbarkeiten der Zeiten und UmstĂ€nde zu Kiefernkillern. Ihre Reise in die japanische Geschichte ist so außergewöhnlich wie die Koordinierungsnetze, die sie weben.
Der Kiefernholznematode richtet an amerikanischen Kiefernarten, die sich zusammen mit ihm entwickelten, nur geringen Schaden an. Zu tödlichen BaumschĂ€dlingen wurden die FadenwĂŒrmer erst, als sie nach Asien importiert wurden, wo die Kiefern sich nicht gegen sie wehren konnten und verwundbar waren. Ökologen haben diesen Vorgang erstaunlicherweise ziemlich prĂ€zise nachzeichnen können. Die ersten Nematoden wurden im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts im Hafen von Nagasaki aus amerikanischen Schiffen, wo sie mit der amerikanischen Kiefer ankamen, entladen.7 Im Zuge der Industrialisierung Japans, in der die Eliten begierig nach Rohstoffen aus aller Welt suchten, war auch Holz zu einer wichtigen Ressource geworden. Mit ihm kamen auch zahlreiche ungeladene GĂ€ste ins Land. Bald nach seiner Ankunft wanderte der Kiefernholznematode mit heimischen LanghornbockkĂ€fern weiter ins Land. Ausgehend von Nagasaki kann seine Verbreitung in konzentrischen Kreisen verfolgt werden. Mit dem heimischen Langhornbock als Vehikel verĂ€nderte der Nematode aus Übersee die japanische Waldlandschaft.
Solange die Lebensbedingungen gut sind, wird eine befallene Kiefer nicht unbedingt absterben, und diese vage Bedrohung hat auch den kollateral betroffenen Matsutake noch nicht völlig den Garaus gemacht. Kiefern jedoch, die durch verdichtete WĂ€lder, Lichtmangel und zu viel BodendĂŒngung unter Stress stehen, sind fĂŒr die FadenwĂŒrmer eine leichte Beute. ImmergrĂŒne LaubbĂ€ume ĂŒberwachsen und verschatten die japanischen Kiefern. Manchmal setzt sich BlĂ€uepilz in Verletzungen der NadelbĂ€ume und ernĂ€hrt die Nematoden.8 Zudem unterstĂŒtzen die wĂ€rmeren Temperaturen des menschengemachten Klimawandels ihre Verbreitung.9 Viele Geschichten laufen hier zusammen. Sie ziehen uns aus den Blasenwelten hinaus in die wechselhaften Kaskaden des Zusammenwirkens und der KomplexitĂ€t. Die Lebensgrundlagen des Fadenwurms – und die der Kiefer, die er angreift, und des Pilzes, der sie zu retten versucht – werden, da sich Gelegenheiten bieten und alte Talente neu greifen, innerhalb instabiler GefĂŒge verbessert. Mitten in dem GetĂŒmmel all dieser Geschichten betritt der Matsutake die BĂŒhne: Sein Schicksal hĂ€ngt von der StĂ€rkung oder SchwĂ€chung der uexkĂŒllschen Geschicklichkeit der Kiefernholznematoden ab.
Indem ich anhand der Wanderungen der Nematoden den Matsutake folge, kann ich, diesmal mit drei Thesen, zu meiner Frage zurĂŒckkommen: Wie die Abenteuer von Landschaften erzĂ€hlen? Erstens, anstatt unsere Analysen auf jeweils ein Geschöpf (den Menschen eingeschlossen) oder gar nur eine Beziehung zu beschrĂ€nken, sollten wir, wenn wir wissen möchten, was einen Ort lebenswert macht, die polyfonen GefĂŒge, das Zusammentreffen verschiedener Lebensweisen studieren. GefĂŒge sind Darbietungen von Lebensoptionen. Matsutake-Geschichten ziehen uns in Kiefern- und Nematoden-Geschichten hinein. Dort, wo sie sich miteinander koordinieren, schaffen sie lebenswerte – oder tödliche – Situationen.
Zweitens, artenspezifische Geschicklichkeit wird in der Koordinierungsarbeit der GefĂŒge geschĂ€rft. UexkĂŒll ist auf der richtigen Spur, wenn er feststellt, dass selbst die bescheidensten Geschöpfe an der Welterzeugung teilhaben. Um seine Einsichten zu erweitern, mĂŒssen wir artenĂŒbergreifenden Feinabstimmungen folgen, in denen jeder Organismus zu seiner vollen Entfaltung kommt. Der Matsutake ist nichts ohne die Rhythmen des Matsutake-Waldes.
Drittens, Koordinierungen entstehen und vergehen durch die ZufĂ€lligkeiten des geschichtlichen Wandels. Ob Matsutake und Kiefern in Japan weiterhin zusammenwirken können, hĂ€ngt zum großen Teil von anderen FĂŒgungen ab, die durch die Ankunft der Kiefernholznematoden in Gang gesetzt wurden.
Um all dies zusammenzufĂŒhren, dĂŒrfte es hilfreich sein, noch einmal die in Kapitel 1 erwĂ€hnte polyfone Musik in Erinnerung zu rufen. Um die Polyfonie im Gegensatz zu den vereinheitlichten Harmonien und Rhythmen von Rock, Pop oder klassischer Musik schĂ€tzen zu können, muss man sowohl auf die einzelnen Melodielinien als auch auf ihr Zusammentreffen in Momenten unerwarteter Harmonie oder Dissonanz hören. Auf Ă€hnliche Weise muss man sich, um ein GefĂŒge wĂŒrdigen zu können, seinen einzelnen Seinsweisen widmen und zugleich beobachten, wie diese sich in sporadischen, aber folgerichtigen Begegnungen koordinieren. Im Gegensatz zu der Vorhersagbarkeit eines notierten MusikstĂŒcks, das immer wieder von Neuem gespielt werden kann, verschiebt sich die Polyfonie des GefĂŒges, wenn sich seine Bedingungen Ă€ndern. Zu einer solchen Hörpraxis versucht der vorliegende Abschnitt des Buches anzuregen.
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