1Ätiologie und Pathogenese
Wieland Kiess
1.1Adipositas: Ätiologie und Pathogenese
Adipositas ist eine multifaktoriell verursachte Erkrankung, die viele Organe des menschlichen Organismus betrifft. Genetische und soziale Vererbung, Lebensstil, Wohnumgebung, Verstädterung und Urbanisierung, möglicherweise chemische Noxen wie endokrin wirksame Chemikalien (endocrine dysrupting chemicals = EDCs), das sogenannte Exposom, aber auch die bakterielle Darmflora, das Mikrobiom des Darms, sowie kulturelle, soziodemographische und ökonomische Bedingungen spielen bei der Entstehung und dem Unterhalt der Erkrankung gleichermaßen eine Rolle. Adipositas trat bereits früh in der Menschheitsgeschichte, z. B. im Kontext mit seltenen genetischen und insbesondere monogenen Erkrankungen, auf. Dies wurde durch archäologische Funde nachgewiesen. Die Erkrankung ist aber in der jüngeren Geschichte häufiger geworden. Deshalb sind Gedanken zur Evolution und Evolutionsgeschichte von Übergewicht und Adipositas formuliert worden [1].
Nicht zuletzt die ‚Thrifty-Genes‘-Hypothese (s. u.) vermag es, die oben angeführten Faktoren in einer einzigen Theorie zur Ätiologie und Pathogenese der Adipositas zusammenzuführen. Ernährung und körperliche Bewegung können als Stellgrößen in einem kybernetischen Modell der Adipositas-Entstehung angesehen werden. Fettmasse und Körpergewicht wären als die zu regulierenden Regelgrößen, die über Hunger und Sättigung als Störgrößen modifiziert werden, zu verstehen (Abb. 1.1). Das vorliegende Kapitel stellt die Vielfalt der Gewichtsregulation und die Komplexität der Ätiologie und Pathogenese der Adipositas-Erkrankung dar. Eine einseitige und auf nur wenige Stellgrößen fokussierte Theorie der Adipositas-Genese und eine falsche Theorem-Bildung werden der komplexen Regulation von Nahrungsaufnahme, Energieverbrauch und Energiespeicherung nicht gerecht. Angesichts der multifaktoriellen Genese wird verständlich, warum die Therapie der Adipositas schwierig und eine Heilung nicht möglich ist. Die Behandlung und der Umgang mit Adipositas bleiben gerade wegen der komplexen Ätiopathogenese eine Herausforderung für Betroffene und Behandler [2].
1.1.1Genetische Faktoren
Genetische Erkrankungen, die mit Adipositas einhergehen, sind in ihrer Gesamtheit häufig. Viele dieser Adipositas-Syndrome weisen ein charakteristisches Präsentationsalter, einen einzigartigen Phänotyp, zum Teil aber auch eine überlappende klinische Symptomatologie auf. Letzteres unterstreicht, dass bei einigen dieser Syndrome gemeinsame Signalübertragungswege gestört sind und gemeinsame Mechanismen zur Adipositas führen. Wenn die genetischen Hintergründe dieser Syndrome einmal komplett verstanden sind, werden auch die funktionellen Auswirkungen und die Mechanismen der Adipositas-Entstehung erkannt sein. Außerdem werden auf grundlagenwissenschaftlichen Erkenntnissen neue spezifische Therapien denkbar. Das Bardet-Biedl-Syndrom, das Prader-Willi-Syndrom, welches das häufigste Adipositas-Syndrom darstellt und durch einen Verlust an „Imprinted“-Genen auf dem Chromosom 15q11-13 verursacht wird, werden erwähnt. Außerdem werden kurz weitere genetische Adipositas-Syndrome wie das Alström-Syndrom, das Cohen-Syndrom, die Albrights hereditäre Osteodystrophie (Pseudohypoparathyreoidismus) sowie schließlich das Carpenter-Syndrom beschrieben. Das MOMO-Syndrom, das Rubinstein-Taybi-Syndrom und Deletionen auf den Chromosomen 1, 2, 6 und 9 sind ebenfalls mit einer frühkindlichen Adipositas assoziiert.
Abb. 1.1: Schematische Beschreibung der Adipositas-Entstehung im Sinne eines kybernetischen Modells. Körpergewicht wird über Stellgrößen und Regler moduliert.
1.1.1.1Ätiologie der Adipositas-Erkrankung im Kindes- und Jugendalter
Was sind mögliche Ursachen und Risikofaktoren bei der Entstehung von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter?
–Genetik
–Ethnizität
–Fetale, frühe Prägung/Programmierung
–Biologische Faktoren wie Adipozytokine und hormonelle Signale
–Grunderkrankungen
–Syndrome
–Medikamente
–Handicaps (Rollstuhl-gebunden)
–Psychologische Faktoren
–Resilienz
–Abhängigkeit (Sucht?)
–Sozioökonomische und soziokulturelle Bedingungen
–Wohnbedingungen
–Nahrungsmittelangebot: Quantität und Qualität
–Sitzender und ruhender Lebensstil
–Persönliche Faktoren
–Soziale Vererbung
–Familienstruktur
–Nachbarn und Freunde
–Globalisierung
–Industrialisierung
–Modernisierung
–Urbanisierung
1.1.1.2Pathogenese der Adipositas-Erkrankung und Faktoren, die zur Entwicklung und Exazerbation der Erkrankung beitragen
Was sind möglicherweise Einflussfaktoren und Barrieren für den Therapie-Erfolg oder den Erfolg von Präventionsstrategien?
–Erziehung
–Bildung innerhalb der Familie, der Eltern
–Familienstruktur, alleinerziehende Eltern
–Alter des Kindes, der Geschwister, der Eltern
–Einkommen der Eltern
–Freunde/Peers
–Soziokulturelle Faktoren
–Ernährung
–Gewohnheiten
–Religions- und Kulturzugehörigkeit
–Umgebungsfaktoren
–Wohnsituation
–Innentemperatur der Wohnungen; Klimatisierung
–Klima und Außentemperatur
1.1.1.3Faktoren der Adipositas-Therapie und -prävention, die zum Verlauf der Adipositas-Erkrankung beitragen
Wie beeinflussen unterschiedliche Behandlungsstrategien den Therapieerfolg?
–Art des Therapieverfahrens
–Ausbildung der Therapeuten
–Persönlichkeit der Therapeuten
–Vorbilder
–Motivation
–Stigmatisierung
–Selbstwahrnehmung
–Zeitbudgets
–Zeitgeist, Moden
–Medien
–Essverhalten (Auslassen von Mahlzeiten, z. B. Frühstück)
–Werbung
1.1.2Monogene Adipositas-Syndrome
1.1.2.1Bardet-Biedl-Syndrom
Das Bardet-Biedl-Syndrom (BBS, OMIM 209900) ist eine heterogene Erkrankung, die hauptsächlich rezessiv vererbt wird. Die klinischen Symptome schließen eine Degeneration der Retina insbesondere im zweiten Lebensjahrzehnt, mentale Retardierung, Adipositas, zystische Nierendegeneration sowie eine Polydaktylie und eine Hypoplasie bzw. Fehlbildungen der äußeren Genitalien ein. Bezüglich des Körpergewichts ist es von besonderer Relevanz, dass Kinder mit BBS zunächst ein normales Geburtsgewicht aufweisen, aber bereits im 1. Lebensjahr eine starke Gewichtszunahme zeigen. Da ein Drittel der betroffenen Kinder keine Polydaktylie aufweist und eine Beeinträchtigung des Sehvermögens erst im 6. bis 8. Lebensjahr oft im Sinne einer Nachtblindheit auftritt, wird die Diagnose häufig im Schulkindalter gestellt. Zwölf Bardet-Biedl-Syndrom-Gene (BBS 1–12) wurden identifiziert [3]. Eine Genotyp-Phänotyp-Korrelation ist bisher nicht bekannt. In jüngster Zeit wird vermutet, dass das Bardet-Biedl-Syndrom durch eine Dysfunktion von primären Cilien und intraflagellarem Transport verursacht wird. Interessanterweise zeigen große Populationsstudien, dass Variationen innerhalb der BBS-Gene mit einem allgemeinen Risiko für Adipositas in der Bevölkerung korrelieren. So war z. B. ein BBS-2-Polymorphismus (SNIP) mit allgemeiner Adipositas bei Erwachsenen assoziiert. Dagegen sind SNIPs im BBS-4- und BBS-6-Gen mit frühkindlicher Adipositas respektive späterer adulter schwerster Adipositas (morbider Adipositas) verknüpft [4–7].
1.1.2.2Cohen-Syndrom
Patienten mit Cohen-Syndrom (CS, OMIM 216550) sind häufig entwicklungsmotorisch verzögert und zeigen Verhaltensauffälligkeiten. Außerdem sind Gesichtsdysmorphien pathognomonisch: Eine milde maxillare Hypoplasie, eine prominente Nasenwurzel, Mikrognathie, ein hoher (gotischer) Gaumen, relativ dichtes Haar und eine obere Lippe, die die unteren Schneidezähne wenig bedeckt, sind häufig zu finden. Während der Kleinkind- und frühen Schulkindzeit beginnen die Patienten deutlich Gewicht zuzunehmen und eine Stammfettsucht zu entwickeln. Viele Patienten mit Cohen-Syndrom weisen eine Neutropenie auf, die das Vorliegen des Syndroms häufig erst beweist. Es wird angenommen, dass das für die Erkrankung verantwortliche mutierte Gen, VPS13B, bei der neuronalen Differenzierung eine Rolle spielt [8].
1.1.2.3Alström-Syndrom
Das Alström-Syndrom (ALS, OMIM 203800) ist ein rezessiv vererbtes Adipositas-Syndrom. Typischerweise sind Patienten mit Alström-Syndrom von früh einsetzender Adipositas, Hyperinsulinämie, häufig mit Acanthosis nigricans und Typ-2-Diabetes einhergehend, betroffen. Bereit...