KUNST UND HALTUNG
Die Bundeswehr hat ein Haltungsproblem (Nazi-Skandal!), Manager haben ein Haltungsproblem (Diesel-Skandal!), die Politik hat ein Haltungsproblem (Verwicklungsskandal!), die katholische Kirche hat ein Haltungsproblem (Missbrauchsskandal!), Islamisten sowieso. Die ganze Welt hat offenbar ein Haltungsproblem. Selbst Gott hat eins. Oder ist die Theodizeefrage, also die Frage, ob es Gott gibt, und wenn ja, warum er dann so viel Leid zulĂ€sst, etwa etwas anderes als die Frage, ob Gott ein Haltungsproblem hat? Die Revolution, die im 18. Jahrhundert gemeinsam mit anderen Kollektivsingularen, zu denen auch die Kunst gehört, Gott abgelöst hat, hat mittlerweile auch ein Haltungsproblem (Venezuela). Und immer wird das Ganze von noch schlimmeren Krisen ĂŒberschattet: von einem US-PrĂ€sidenten, der einen Atomkonflikt mit dem Iran und Nordkorea riskiert, von immer neuen unschuldigen Gefangenen in der TĂŒrkei, von immer neuen Opferrekorden, die der Terror aufstellt.
Auch die Kunst, um die es hier geht, hat ein Haltungsproblem: Es geht bei engagierter Kunst immer um die ganz groĂen Fragen, die sich kritisch mit unserem System auseinandersetzen, mit Kapitalismus und Neoliberalismus, die sich um die FlĂŒchtlingskrise drehen, um VergangenheitsbewĂ€ltigung, um die Verbrechen des Nationalsozialismus und Kolonialismus, um Genderisierung oder um die Umwelt. Sie hat sich darin auf redliche Weise, indem sie zuvor etwa irgendwelche kleinen Fragen beantwortet hĂ€tte, die das Tagesgeschehen betreffen, aber keine Kompetenz erworben, sodass es keinen Anhaltspunkt dafĂŒr gibt, wodurch die Kunst die Kompetenz fĂŒr die groĂen Fragen ĂŒberhaupt besitzen sollte oder, weniger geringschĂ€tzig vielleicht, woher ihr VerantwortungsgefĂŒhl kommt.
Jedenfalls nicht, indem sie zuvor irgendwelche kleinen Fragen beantwortet hĂ€tte, die da wĂ€ren: ob es Unrecht war, dass Niedersachsens MP Stephan Weil seine Rede vorab bei VW vorgelegt hat oder dass Baden-WĂŒrttembergs grĂŒner MP Winfried Kretschmann einen Diesel, also einen Luftverpester, fĂ€hrt. Die Frage, ob Christian Wulff als Ex-BundesprĂ€sident fĂŒr ein tĂŒrkisches Bekleidungsunternehmen arbeiten darf oder ob er damit nicht gegen die WĂŒrde des Amtes verstöĂt und sein Anrecht auf den Ehrensold in Höhe von jĂ€hrlich 236.000 Euro verliert. Genauso, was mit Gerhard Schröder ist und seinem Aufsichtsrat-Job bei Rosneft. Warum sich in Köln nur so wenige Muslime am Friedensmarsch gegen Gewalt und islamistischen Terror beteiligt haben und warum abermals â diesmal in Barcelona â ein VerrĂŒckter in eine Menschenmenge fuhr.
Es geht bei engagierter Kunst immer um die ganz groĂen Fragen, aber sie beteiligt sich nicht (oder nur sehr selten) an den kleinen. Am, wie man so schön sagt, âTagesgeschĂ€ftâ.
Doch wird die Kunst im öffentlichen Diskurs darĂŒber ĂŒberhaupt vermisst? Gibt es eine Mehrheit, die sich darĂŒber beklagt, dass Kunst sich an Diskussionen ĂŒber das Tages- oder Wochengeschehen, die tĂ€glich in den Medien oder sozialen Netzwerken stattfinden, nicht beteiligt? Oder umgekehrt, dass solche Debatten im Feld der Kunst nicht stattfinden?
Beziehungsweise steht Kunst ĂŒberhaupt in der Verantwortung, sich am Tagesgeschehen zu beteiligen? Sich mit kleinen Fragen aufzuhalten? Oder verliert sie dadurch nicht sogar ihren Glanz?
Zur QualitĂ€t groĂer Kunst zĂ€hlt zwar, dass sie nah am Zeitgeist ist, aber gleichzeitig auch zeitlos und universell.
Auf der anderen Seite: Wenn Kunst sich schon fĂŒr die groĂen Fragen verantwortlich fĂŒhlt, ist sie dann nicht umso mehr auch fĂŒr die kleinen verantwortlich? Und erwartet man nicht â wenn sie schon die groĂen Fragen behandelt â, dass sie zuvor bereits Antworten auf die kleinen gefunden hat?
Kann man die Kunst vielleicht ein bisschen mit der Kirche vergleichen, von der sich einstmals â es ist vielleicht noch gar nicht so lange her â viele SchĂ€fchen gewĂŒnscht hĂ€tten, dass sie sich mehr ins Tagesgeschehen einmischt, dass die Kirche sie mehr bei den kleinen, alltĂ€glichen Fragen des Lebens stĂŒtzt? Diese sich dazu aber nicht herabgelassen hat. Dadurch immer mehr an Einfluss und Bedeutung verlor, sodass sich heute kaum jemand mehr dafĂŒr interessiert, was sie zu den groĂen Fragen, zur Abtreibung oder Homo-Ehe etwa, zu sagen hat. Die Kunst fĂŒhlt sich verantwortlich fĂŒr die groĂen Fragen, kann aber keine Antworten auf die kleinen finden oder interessiert sich gar nicht erst dafĂŒr.
Einerseits, ganz praktisch, kann man mit Kunst gar nicht schnell genug reagieren auf Dinge wie Dieselgate, Nazi-VorwĂŒrfe gegen die Bundeswehr, Air Berlin-Pleite oder Leitkulturdebatte. Zwar können sich KĂŒnstler genauso wie alle anderen am öffentlichen Diskurs beteiligen, aber ehe ein Kunstwerk â ein Kunstwerk als Beitrag zu einer Debatte â fertig wĂ€re, wĂŒrde schon lĂ€ngst wieder ein neues Problem auftauchen und das alte in Vergessenheit geraten.
Andererseits stellt sich bei Problemen, die so gravierend sind, dass genug Zeit wĂ€re, sich kĂŒnstlerisch damit auseinanderzusetzen, die Frage, ob Kunst ĂŒberhaupt ein angemessenes Mittel ist, sich mit diesem Problem zu beschĂ€ftigen, ob Kunst diesem Thema gerecht werden kann und seitens der KĂŒnstler, ob es moralisch richtig ist, daraus Kunst zu machen.
Sicher, man kann hier entgegnen: Was ist denn mit all der Kunst, die in Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus geschaffen wurde? Stolpersteine. Das Holocaustdenkmal. Sind die etwa unangemessen? Verfehlen die etwa ihre Wirkung? Sind sie nur angemessen, weil die Nazizeit vorbei ist und der Schrecken nicht mehr gegenwÀrtig?
Gegenfrage: WĂŒrden heute in Deutschland noch Unschuldige vom Staat nur aufgrund ihres Glaubens aus ihren HĂ€usern verschleppt werden mit der Gewissheit, nie wieder zurĂŒckzukommen, wĂ€ren dann Stolpersteine, die jetzt gerade wieder wahlkampfmĂ€Ăig von Bundestagskandidaten poliert werden, eine angemessene Auseinandersetzung oder ein schöner Trost?
Die Diskussion um das geplante Einheitsdenkmal âBĂŒrger in Bewegungâ, das vor dem Haupteingang des Humboldtforums errichtet werden soll und dessen Einweihung fĂŒr 2019 angesetzt ist, zeigt, wie erheblich heute die Zweifel am Sinn solcher Erinnerungs- beziehungsweise Mahnungskunst sind.
âBĂŒrger in Bewegung" soll ein Denkmal werden fĂŒr die friedliche BĂŒrgerbewegung, die dafĂŒr gesorgt hat, dass die Mauer fiel. Aber ist es auch ein angemessenes Denkmal fĂŒr die 139 Menschen, die beim Versuch, die Mauer zu ĂŒberqueren, von DDR-GrenzwĂ€chtern erschossen wurden? Oder fĂŒr die 1274 Menschen, die beim waghalsigen Versuch, ĂŒber die Ostsee aus der DDR zu fliehen, ertranken oder an Erschöpfung und UnterkĂŒhlung starben?
Hanno Rauterberg nennt in der Wochenzeitung DIE ZEIT Beispiele, in denen eine falsche Haltung sogar Anlass fĂŒr KulturkĂ€mpfe war: Schwarze gegen WeiĂe im Falle Kelley Wa...