1 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen
Wenn man die verschiedenen Gesundheitssysteme weltweit betrachtet, kann man zumindest in den IndustrielĂ€ndern ĂŒberall dieselben Entwicklungen beobachten. Die Organisationsstrukturen der Gesundheitssysteme sind kaum mehr bezahlbar, eine intensive Diskussion ĂŒber die Leistungen, die im Gesundheitssystem erbracht werden, und deren Finanzierung ist im Gange. Betrachtet man den Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt, so ist dies verstĂ€ndlich (
Abb. 1).
Abb. 1: Gesundheitsausgaben in Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausgewÀhlter LÀnder 20141
Vergleicht man die Ausgaben ausgewĂ€hlter LĂ€nder hinsichtlich der dort aufgewendeten Gesundheitsausgaben, so stellt man fest, dass Deutschland sich stets in höheren RangplĂ€tzen bewegt. Der Trend zur jĂ€hrlichen Steigerung der Gesundheitsausgaben ist in verschiedenen Statistiken eindrucksvoll belegt. So stiegen die Ausgaben von 1992 bis 2017 von 19,5 Mio. ⏠auf 374,2 Mio. âŹ.2
In vielen IndustrielĂ€ndern ist, ausgelöst durch verschiedene Ursachen, in den letzten Jahren eine Reform des Gesundheitswesens zu beobachten. Auch in Deutschland gibt es spĂ€testens seit der Verabschiedung des Gesundheitsreformgesetzes 1989 das sichtbare BemĂŒhen des Gesetzgebers, die Rahmenbedingungen fĂŒr das Gesundheitswesen gravierend zu verĂ€ndern. Diese Entwicklung setzt sich seither mit verschiedenen Gesetzesinitiativen kontinuierlich fort.
Die problematischen Situationen, in denen sich Gesundheitssysteme befinden, haben in den meisten LÀndern weltweit dieselben Ursachen, Entwicklungstrends und Herausforderungen. Diese werden in den nachfolgenden Unterkapiteln nÀher dargestellt:
⹠Alter und Gesundheitszustand der Bevölkerung
âą Entwicklung des Versorgungssystems, Zunahme der Versorgungsangebote
âą Medizinischer Fortschritt
âą Entwicklung der Informationstechnologie
âą AnsprĂŒche der Patienten an das Gesundheitssystem
1.1 Alter und Gesundheitszustand der Bevölkerung
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat die Lebenserwartung stetig zugenommen. Dies ist teilweise auf die Verringerung der SĂ€uglingssterblichkeit zurĂŒckzufĂŒhren.3 Seit einigen Jahren kann jedoch auch eine Zunahme der »ferneren Lebenserwartung«, also der VerlĂ€ngerung der Lebenserwartung der erwachsen gewordenen Bevölkerung, registriert werden. In den letzten Jahren kam es pro Dekade zu einer Zunahme der Lebenserwartung um durchschnittlich drei Jahre.
Demografische Analysen zeigen, dass der Anteil Àlterer Menschen an der Gesamtbevölkerung stetig zunimmt.4 Dies hat Auswirkungen auf
âą die Frequentierung von Gesundheitsleistungen sowie
âą Einnahmen und Ausgaben von Krankenversicherungen.
Auch die in der Bevölkerung auftretenden Erkrankungen verĂ€ndern sich. WĂ€hrend zu Beginn des Jahrhunderts in den IndustrielĂ€ndern als wichtigste Todesursache noch Infektionskrankheiten zu verzeichnen waren, fĂŒhren heute â bedingt durch die Verbesserung der hygienischen, sozialen und ökonomischen Situation groĂer Teile der Bevölkerung â andere Erkrankungen die MorbiditĂ€ts- und MortalitĂ€ts-Statistiken an. An deren Spitze stehen heute Herz-Kreislauf-Erkrankungen und die Folgen bösartiger Neubildungen. Aber auch chronisch-degenerative Erkrankungen nehmen stetig zu.5
Immer mehr Menschen erreichen also ein höheres Lebensalter und sind mit behandelbaren, z. T. chronischen Erkrankungen belastet. Die Zunahme des Lebensalters spielt sich in einem Altersabschnitt ab, in dem diese Menschen zumeist keine Einzahlungen in die Krankenversicherung mehr leisten. Die beitragsfreie Ăberlebenszeit steigt also.
1.2 Entwicklungen des Versorgungssystems
Bedingt durch die Entwicklung der medizinischen Diagnostik, aber auch das Nachfrageverhalten der Bevölkerung nach Vorsorgeuntersuchungen und routinemĂ€Ăigen Gesundheitschecks werden immer mehr Menschen durch das Gesundheitssystem bereits in einem frĂŒhen, z. T. noch symptomlosen Krankheitsstadium als »krank« und behandelbar identifiziert. Hierdurch kommt es zu mehr und lĂ€ngeren Behandlungen bzw. Behandlungen ab einem frĂŒheren Krankheitsstadium.
1.2.1 Zunahme von Versorgungsangeboten
Auch die Zahl der Leistungsanbieter wĂ€chst stetig. So stieg die Zahl der niedergelassenen Ărzte (Bundesrepublik, ohne neue BundeslĂ€nder) von 49.225 im Jahr 1960 auf eine Zahl von 92.289 im Jahr 1990.6 Auch in jĂŒngerer Zeit ist dieser Trend ungebremst. So nahmen nach Angaben der KassenĂ€rztlichen Bundesvereinigung 1990 88.811 Ărzte7 an der kassenĂ€rztlichen Versorgung teil,8 2005 waren es bereits 126.252 Ărzte.9 Bedingt durch neue Versorgungsformen gab es im ambulanten Bereich 2018 ca. 40.000 angestellte und 117.472 niedergelassene Ărzte.10
Das durchschnittliche Einkommen niedergelassener Ărzte in diesem Zeitraum hat sich dabei jedoch kaum verĂ€ndert.11 Daraus ist zu folgern, dass eine Erhöhung der AktivitĂ€ten im diagnostischen und therapeutischen Bereich stattgefunden hat.
Im Gegensatz zu einem freien Markt, in dem die Nachfrage das Angebot regelt, haben wir es im Gesundheitsbereich mit dem PhÀnomen zu tun, dass das Angebot eine Nachfrage induziert bzw. eine Steigerung von Anbietern eine erhöhte Zahl von AktivitÀten nach sich zieht.12
1.2.2 Medizinischer Fortschritt
Entwicklungen in der Medizin-Technologie sind auf zahlreichen Gebieten zu beobachten. Der Einsatz von
âą Robotertechnik bzw. Roboterassistenz,
âą kĂŒnstlichen Organen (Herz, Lunge, Leber usw.),
âą Gentechnologie und
âą Mikro-Manipulationstechniken, Mikrochirurgie, minimal-invasiver Chirurgie
gehört â um nur einige Beispiele zu nennen â immer mehr zur Routine. Die Effekte sind einerseits Kostenersparnis, indem z. B. durch Roboterassistenz SpĂ€tschĂ€den infolge nicht achsengerecht implantierter Endoprothesen verhindert werden.
Andererseits ist ein erhöhter Ressourceneinsatz zu beobachten, beispielsweise bei der Ausstattung von KrankenhĂ€usern mit Operations-Robotern, zusĂ€tzlichem endoskopischem Instrumentarium zu dem ohnehin vorzuhaltenden, konventionellen Operationsinstrumentarium. So stiegen die Kosten deutscher KrankenhĂ€user von 1996 bis 2017 von 48,4 Mrd. ⏠auf insgesamt rund 91,3 Mrd. âŹ.13
1.2.3 Entwicklung der Informationstechnologie
Auch im Gesundheitswesen sind die Auswirkungen der Entwicklung der Informationstechnologie zunehmend spĂŒrbar. Der Einsatz von Chipkarten, die Digitalisierung von Röntgenbildern, der Einsatz von Telemedizin sind nur einige Beispiele. Auch die schnellere VerfĂŒgbarkeit von Forschungsergebnissen und die Möglichkeit der Recherche im Internet und in groĂen Datenbanken sind zu nennen.
Auch dies ist eine Entwicklung mit Auswirkungen in zwei Richtungen: Einerseits kann es zur Effizienzsteigerung beitragen, wenn z. B. durch den Einsatz von Telemedizin Spezialisten online frĂŒher oder regelmĂ€Ăiger in Behandlungen einbezogen werden, da auf elektronischem Wege Konsile und Beratungen durchgefĂŒhrt werden können. Andererseits trĂ€gt die Entwicklung dazu bei, dass sich neue Erkenntnisse aus der Forschung schneller als frĂŒher in der Routine verbreiten, was den erforderlichen Ressourceneinsatz schneller als bisher steigert.
1.2.4 AnsprĂŒche der Patienten an das Gesundheitssystem
Auch im Verhalten der Bevölkerung in Bezug auf das Gesundheitswesen gibt es Trends zu beobachten. In der Trendstudie der Zukunftsinstitut GmbH wird im Trend 16, Can-Do-Medizin folgender Trend beschrieben: Zukunftsstudie Horx:14 »Doch die Patienten mucken auf. Gesundheit wird heute von vielen Menschen als Teil ihrer Selbstbestimmtheit gesehen. Ein starkes BedĂŒrfnis nach Selbstbehandlung und Selbstheilung entsteht.«
FĂŒr die Bevölkerung stehen Gesundheitsinformationen heute leichter zugĂ€nglich als bisher zur VerfĂŒgung. Durch die weite Verbreitung des Internets haben Patienten heute einfachen Zugang zu Forschungsergebnissen, medizinischen Leitlinien, Anbieteradressen und Benchmarking-Ergebnissen. So sind ĂŒber die Internet-Seiten der AWMF mit stark wachsender Tendenz derzeit bereits ca. 500 Leitlinien aus nahez...